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Doppelmord von Dr. Rolf Kornemann


"Schachtungen" in Berlin

Eine bedingt von anderen Großstädten des Deutschen Reiches abweichende
Situation lag in Berlin vor. Wie in Wien bestand auch in der Reichshauptstadt ein
eklatantes Mißverhältnis zwischen dem Neubau und der Wohnungsnachfrage;
auch hier verfügten die Juden über zahlreiche, teilweise gut ausgestattete
Wohnungen. Im Gegensatz zu anderen Regionen benötigte das Reich - vor den ersten
Ausfällen aufgrund des alliierten Bombardements - in Berlin zusätzlich eine
große Reserve für "Abrißmieter". Hitler plante eine bis
1950 abzuschließende Neugestaltung der Hauptstadt. Nach dem "Erlaß
über einen Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt" vom 30. Januar
193744) sollte
Speers Aufgabe darin bestehen, zur "planvollen Gestaltung ... einen neuen
Gesamtbauplan aufzustellen und dafür zu sorgen, daß alle das Stadtbild
beeinflussenden Platzanlagen, Straßenzüge und Bauten nach einheitlichen
Gesichtspunkten würdig durchgeführt werden."

Voraussetzung waren umfangreiche Abrisse, die wiederum von der Bereitstellung entsprechender
Ersatzwohnungen abhingen. Speer entwickelte den Vorschlag, "der darauf abzielte, die
erforderlichen Großwohnungen durch zwangsweise
Ausmietung von Juden freizumachen"5
45). Nach einer
Hochrechnung betrug der Ersatzbedarf für "Abrißmieter" ca. 62.000
Wohneinheiten. An Judenwohnungen waren in Berlin schätzungsweise 40.000 Wohnungen
vorhanden, davon allein 25.000 Großwohnungen
46).
Die von den Abrißmietern beanspruchten Judenwohnungen wurden also geräumt
und die jüdischen Mieter im jüdischen Wohnraum in jüdischen Grundbesitz
"geschachtet". (Anmerkung: Das Wort "Schachtung, das in keinem Wörterbuch
vorkommt, ist kein Schreibfehler. Für die Umquartierung wird tatsächlich dieser
Begriff in die Dienstsprache von Speer eingeführt.) Am 3. Dezember 1938, d.h. nach dem
Pogrom, waren Berliner Teile mit dem "Judenbann" belegt worden waren
47).

Nach den ersten in Berlin einsetzenden Bombenangriffen wurden jüdische Wohnungen auch
als "Katastrophenwohnungen" benötigt.

Freigeräumte jüdische Wohnungen, die weder für Abrißmieter noch
für Ausgebombte benötigt wurden, dienten der Unterbringung von Beamten,
insbesondere des Auswärtigen Amtes, von Wehrmachtsangehörigen und von
Mitarbeitern des Reichssicherheits-Hauptamtes
48).

Ab Beginn des Jahres 1941 wurden die zwangsgeräumten Familien nicht mehr in
Judenhäuser eingewiesen; statt dessen setzte die unmittelbare Vertreibung der
jüdischen Bevölkerung aus Berlin ein
49).


© Copyright by Dr. Rolf Kornemann
© Layout Birgit Pauli-Haack 1997
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