Shoah Project | Süddeutsche Zeitung vom 4. März 2000 | Feuilleton

Hans Heigert

Das Missverständnis Eichmann

Wiedergelesen (2): Hannah Arendts Essays über die „Banalität des Bösen“

Adolf Eichmann war kein Monster, keine Bestie in Menschengestalt, kein Menschenschinder, der eigenhändig Menschen ausgepeitscht oder sie persönlich erschossen hätte. Ganz im Gegenteil: Der Mann war ganz gewöhnlich, banal, nicht eigentlich böse. Er war ein Bürokrat in SS-Uniform. Er transportierte Hunderttausende von europäischen Juden in die Vernichtungslager in Polen. Er kannte diese aus kurzen Besuchen, zeigte dabei „Schwäche“, wollte niemals mehr dorthin. Aber am Schreibtisch erfüllte er seine „Pflicht“, auch gelegentlich am Verladebahnhof, und auch bei den Verhandlungen mit den „Judenräten“, den so genannten Selbstverwaltungsorganen.

Man muss sich das vorstellen: Die Bürokratie des Adolf Eichmann war so penibel, dass er noch die letzte Person der Todgeweihten registrierte. Aus Ungarn, wo allerdings die dortige Gendarmerie auf eine entsetzlich bemühte Weise mithalf, wurden in zwei Monaten 147 Züge mit 434 351 Menschen abtransportiert. In Auschwitz konnten sie diese Menge kaum „aufnehmen“.

Hannah Arendt, Philosophin, politische Wissenschaftlerin und Soziologin der Heidelberg Schule, war von der Zeitschrift The New Yorker zur Prozessberichterstattung nach Jerusalem geschickt worden. Das geschah wohl deshalb, weil sie bereits bekannt und berühmt war wegen ihres gründlich erarbeiteten Buchs „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“. Zunächst entstanden fünf Essays, dann ein Buch: „Eichmann in Jerusalem – Ein Bericht von der Banalität des Bösen.“ In der Serie Piper ist noch eine Studie des renommierten Historikers Hans Mommsen vorausgeschickt. Auflage in deutsch: 60 000.

Kaum in englischer Sprache erschienen, zum Teil vorher, lösten die Gedanken und Kritiken der Autorin einen Sturm der Entrüstung aus. Das hatte verschiedene Gründe. In wesentlichen Einwänden wies sie auf die in der Tat schwer wiegenden Widersprüche der Gerichtsverhandlung hin, besonders zwischen dem Auftreten des Generalstaatsanwalts Hausner einerseits und dem Erscheinungsbild des Angeklagten – auch zum hinter allem liegenden Zweck der Urteilsfindung. Nicht an der völkerrechtswidrigen, geheimen und gewaltsamen Entführung durch ein israelisches Sonderkommando aus Argentinien heraus nahm sie Anstoß (die Empörung darüber war auch im Rest der Welt begrenzt und nur kurz). Sondern an der dahinter liegenden Motivation.

Unzufriedenheit herrschte in Israel, dem noch sehr jungen Staat, mit den Verlauf des ersten großen Nürnberger Prozesses, der sich ja vor allem mit der Vorbereitung und Ausführung von Kriegsverbrechen befasste, kaum aber mit der „Endlösung“ der Judenverfolgung. Man wollte in Israel einen ganz großen Prozess führen. Ministerpräsident Ben Gurion selbst hatte das Kidnapping angeordnet. Der Prozess sollte in Jerusalem stattfinden, vor einem allein jüdischen, nicht international besetzten Gericht. Hannah Arendt kritisierte die dahinter weit verbreitete Attitüde, sich bloß nicht in die Serie der internationalen Verfahren einzureihen. Man wollte demonstrativ der Welt zeigen, was den Juden, und nur ihnen angetan wurde: ihre massenhafte Vernichtung. Und in Eichmann glaubte man einen führenden Hauptschuldigen gefunden zu haben. Aber (Arendt): „Eichmann war nicht Jago und nicht Macbeth, und nichts hätte ihm ferner gelegen, als mit Richard III. zu beschließen, ein Bösewicht zu werden: Außer einer ganz ungewöhnlichen Beflissenheit, alles zu tun, was seinem Fortkommen dienlich sein konnte, hatte er überhaupt keine Motive . . . Er hat sich nur niemals vorgestellt, was er eigentlich anstellte.“ Das kennt man ja auch bei anderen, gewöhnlichen Straftätern. Und in der Tat, wie er selbst einmal sagte, andere hätten ebenso gehandelt. Das eben ist es. Er war gleichsam beispielhaft.

Adolf Eichmann war im Sinne des Rechts einer der Hauptschuldigen an den Verbrechen gegen die Menschheit, aber er war ein ganz durchschnittlicher Patron. Das allein wollte vielen nicht in den Kopf. Am meisten verstand man davon in Deutschland. Hier war man mit solchen Typen vertraut. Vielleicht erklärt dies die Tatsache, dass das Echo auf den Prozess bei den Deutschen vergleichsweise gering war. Die einen wollten nichts mehr davon wissen, die anderen kannten sich in der ganzen Erbärmlichkeit gut aus. Sie sahen (oder ahnten doch) die Wahrheit, hatten ins Antlitz des trivialen Durchschnitts geblickt.

Was aber den Protest gegen Hannah Arendts Gedanken zum Prozess so leidenschaftlich machte – zumal in Israel –, das war die Erörterung der Tatsache, dass die ganze Transport- und Vernichtungsmaschinerie nicht so perfekt funktioniert hätte ohne die Mitwirkung der „Judenräte“ (oder wie immer die „Selbstverwaltungsorgane“ der Juden hießen). Es war dies eine besondere Perfidie der SS-Oberen, die Juden selbst zum Registrieren, Einsammeln, Aussondern, Transportieren ihrer Mitmenschen zu bewegen. Dies ist in der Tat ein besonders düsteres Kapitel des ganzen Holocausts. Tatsächlich meinten ja nicht wenige prominente Juden, auch Zionisten (bis 1936), man könne mit den nationalsozialistischen Machthabern zu irgendeinem Modus vivendi kommen – für die Auswandernden, für die Hierbleibenden. Auch Hitler und seine SS hatten ja noch kein „Konzept“. Die „Wannsee-Konferenz“ zur Endlösung fand erst 1942 statt. Die Motive reichten von der irrwitzigen Hoffnung auf ein geregeltes Verhältnis – es hat ja selbst höhere SS-Führer gegeben, die das in freundlichen Gesprächen nährten (selbst Eichmann rühmte sich solchen höflichen Gedankenaustauschs mit Juden) – bis zur verzweifelten Hoffnung, man könne das Schlimmste verhindern, oder gleichsam Tag für Tag einige Wenige retten, noch beim Verladen, selbst noch auf der Rampe. Manche hofften bloß noch auf einen Aufschub, vom einen auf den anderen Moment.

Hannah Arendt, die nichts dergleichen persönlich hatte durchleiden müssen, weil sie schon 1933 emigrierte, musste sich den Vorwurf der Ahnungslosigkeit gefallen lassen. Viele Prominente wandten sich gerade deshalb gegen sie, zum Beispiel Martin Buber oder Manès Sperber, Probst Grüber, Golo Mann und andere, besonders Israelis.

Am meisten berührte der bewegte Einwand des hoch angesehenen, schon älteren Religionswissenschaftlers Gershom Scholem: „Es hat die Judenräte gegeben. Einige waren Lumpen, andere Heilige . . . (Aber) es gibt in der jüdischen Sprache einen Ausdruck, der die ,Liebe zu den Juden‘ anmahnt. Davon ist bei Ihnen, liebe Hannah, nichts zu merken.“ Ein bitterer Vorwurf. Arendt antwortet in der ihr eigenen kühlen Art. „Sie haben vollkommen recht, dass ich eine solche Liebe nicht habe, und dies aus zwei Gründen. Erstens habe ich nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv ,geliebt‘, weder das deutsche noch das französische oder amerikanische . . . Ich liebe nur meine Freunde. Zweitens aber wäre mir diese Liebe zu den Juden, da ich ja selbst Jüdin bin, suspekt.“ Hier enthüllt sich die ganze Überzeugung der Autorin. Sie hat auch energisch die „verhängnisvolle Nicht-Trennung von Religion und Staat in Israel“ kritisiert, wenn nicht angeprangert – gerade vor dem Hintergrund dessen, was in Europa (zumal in Deutschland) geschehen war. Derlei musste den Zorn vieler Juden hervorrufen, nicht nur der Orthodoxen. Bis heute ist das ein zentrales Problem Israels.

Am Ende ihres Briefwechsels mit Scholem schreibt die Autorin: „Das Böse ist immer nur extrem, aber niemals radikal. Es kann die ganze Welt verwüsten, weil es wie ein Pilz an der Oberfläche weiterwuchert. Tief aber und radikal ist immer nur das Gute.“


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