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Meine Reise nach Auschwitz
von
Kenneth Kronenberg

Auschwitz war die zweite Station meiner Reise. Einige Tage, bevor ich Boston verließ, fielen mir wieder die drei Mosaiksteine, die ich vor vielen Jahren auf einem Haufen in der Davidstadt in Jerusalem fand ein. Ich stöberte in einer Kiste herum und fand sie ganz unten. Ich entschloß mich nach jüdischem Brauch, den ersten Stein auf dem Grabstein des letzten Kronenberg in Geseke, den zweiten in Birkenau, wo meine Großeltern ermordet wurden, und den dritten auf dem Grabstein meiner Mutter in Berlin niederzulegen.
Die Steine gaben mir Mut. Das habe ich aber nicht sofort verstanden. Zuerst dachte ich nur an der Richtigkeit des Aktes. Ich verstand die Kraft des Rituals noch nicht, die mich auf diesen schweren Stationen schützen würde, so daß ich nur da sein mußte. Weiter nichts.
Ein Deutscher saß schon im Abteil, als ich in Berlin einstieg. Ich fragte ihn wohin er fahre; er erwiderte, daß er Krakow noch nie gesehen hatte und daß er dort das Wochenende verbringen wolle. Ich sagte, daß ich in Katowice umsteigen würde. Wir tauschten einige flüchtige Worte, aber er fragte nie nach meinem Ziel. Als an der Grenze ein junger polnischer Zollbeamte hereinkam und meinen Passbild anschaute, machte ich einen Scherz: Sieht mir doch ähnlich, nicht? Er lachte und erwiderte, es sei unverkennbar. Ich erinnere mich, wie es im Osten noch vor einigen Jahren war. Nichts zu scherzen. Der andere Mann, der mir gegenüber saß, merkte, daß ich einen amerikanischen Paß hatte, sagte aber nichts weiter. Ich machte mich bequem und schaute auf das flache Ackerland mit seinen Siedlungen und Dörfern, die mir fast bekannt schienen. Felder und Wälder huschten an mir vorbei; dann wieder ein Bauernhof mit einer Scheune und anderen Gebäuden und in der Mitte ein Misthaufen als Juwel. Ab und zu sah ich Bauern mit Leiterwagen auf den Feldern und sogar einen Bauer, der noch mit seinem Pferde pflügte.
In manchen Ortschaften sah ich alte hölzerne Güterwagen mit ihren gerundeten Dächern und Schiebetüren auf den Nebengleisen. Als Kind hatte ich eine Märklin Eisenbahn; diese sahen nicht viel größer aus. Irgendwo fuhren wir an einer alten Lokomotive vorbei; es muß aber zwischen Berlin und Frankfurt gewesen sein. Als wir näher kamen stellte ich mir vor, daß meine Großeltern sich von einer Masse von Geistern emporhoben und geduldig auf mich warteten. Sie hatten mich schon in Geseke erblickt und warteten auf ihrem Stein.
Besonders nach Katowice waren gräßliche Industrieanlagen zu sehen. Die Landschaft wandelte sich in eine Art Hölle um. Die Sonne ging langsam unter und der Himmel bekam rötliche Töne. Dunst und Rauch breiteten sich am Boden aus. Kinder betreuten kleine Feuer auf den Rasen, die nach brennendem Abfall rochen. Schlackehaufen gingen in Marschland über. Die Gegend schien mir ungesund. Die älteren Häuser waren ganz marode; die neueren trugen alle bekannten Merkmale sozialistischer Bauweise: Risse, Verfärbung, Unvollendung. Manche Straßen waren ungepflastert. Schornsteine pumpten Rauch in die Luft. Ich habe mich geweigert, Bilder aufzunehmen; es schien mir als ob ich damit die Intimsphäre armer Menschen verletzen würde. Ich schämte mich, erster Klasse zu fahren, und ließ die Kamera liegen. Das war alles nicht meine Geschichte; mein Stein war in meiner linken Brusttasche. Nur deshalb war ich gekommen.
In Oswiecim kam ich bei Abenddämmerung an. Keinen Zloty in der Tasche. Ich lief ungefär zwei Kilometer zu Fuß Richtung Auschwitz. Das christliche Hospiz mußte irgendwo in der Nähe sein. Ich ging an einer katholischen Schule vorbei und fragte einen Priester um Auskunft. Er war sehr nett und gab mir zwei Schüler, Thomas und Anna, zur Begleitung. Anna sprach Englisch und sagte mir, daß sie Journalistin werden wolle. Sie wurde für mich meine Tante Miriam, die jüngste Schwester meiner Mutter, die Schwester, die hier starb. Es war inzwischen ganz dunkel geworden.
Auschwitz teilt sich in Auschwitz I und Auschwitz II (auch Birkenau genannt). Es gab ungefähr 40 Außenlager und einen Zwangarbeitslager, Monowitz, das I.G. Farben diente. Als Chemiker mußte Primo Levi hier Dienst leisten. Diese Lager sind aber alle verschwunden. Die zwei jetzt noch bestehenden Teile bilden das Auschwitz Museum. Diese zwei Lager haben ganz verschiedenartige Wirkungen auf mich ausgeübt. In Auschwitz I wurde sehr viel Zerstörtes nachkonstruiert. Aber man sieht noch die brutalen, steinernen, 1-Quadratmeter grossen Stehzellen, in denen bis zu vier Häftlinge die ganze Nacht hindurch stehen mußten. Sie mußten durch eine 2-Fuß hohe Öffnung hineinkriechen, die dann zugeriegelt wurde. Wenn sie am Morgen zu müde waren zu arbeiten, wurden sie erschossen.

Man sieht auch die Hungerzellen, wo Häftlinge eingemauert wurden und wo die Nazis sie verhungern ließen. Oublietten sind nicht mit der französischen Revolution verschwunden.

Man sieht sowohl die Mauer, wo Hinrichtungen vollzogen wurden als auch den Raum, in dem kurze Prozeße gehalten wurden. Nebenan ist eine Zelle, wo die Häftlinge ihre Hinrichtung erwarteten. Manche erreichten die Mauer nicht; blutbespritzte Wände sind noch zu sehen.

Man kann in die Gaskammer hineingehen und einen rekonstruierten Krematoriumofen sehen. Man kommt auch wieder heraus.

Das Lager ist ein Stacheldrahtpalast. Die Strassen sind breit und gerade und mit schönen hohen Pappeln bepflanzt. Ich habe mich eine Zeit lang einer englischen Tourgruppe angeschlossen. Eine polnische Frau hat die Tour geleitet; die Gruppe verstand fast nichts von dem, was sie zu sagen hatte. Ihr Onkel war in Auschwitz Häftling gewesen, und sie hatte ihm versprochen, daß sie der Welt seine Geschichte erzählen würde. Als während der Tour die Bäume bewunderte fragte, ich sie ob sie schon damals da waren. Sie antwortete "Ja". Dann fragte ich, warum die Nazis Bäume pflanzten. Sie drehte sich zu mir um, sah mich an, and sagte mit zusammengebissenen Zähnen, "Weil die Deutschen die Natur lieben".
Trotz der Grausamkeit konnte ich Auschwitz I doch irgendwie verstehen oder wenigstens mich dazu zwingen. Das Ausmaß hat etwas menschliches an sich. Die Gebäude sind Gebäude, ihrem Zweck zu Trotze. Die Rekonstruktion hat auch zu einer Zähmung beigetragen; alles war irgendwie zu sauber und geputzt.
Birkenau ist aber etwas ganz Anderes. Erstens ist es enorm groß. Man sieht Reihe um Reihe um Reihe um Reihe von nakten Schornsteinen. Als die Nazis vor der Roten Armee flohen, haben sie die Barracken für Männer abgebrannt und die Gaskammern und Krematorien in die Luft gesprengt. An einem dunstigen, kalten Herbsttag war der Effekt unheimlich. Ich kann mir aber gut vorstellen, daß der Effekt an einem klaren Frühlingstag, an einem heissen Sommertag, oder an einem trostlos wüsten Wintertag ähnlich wäre. Es liegt am Ort. Ich konnte meine Augen von diesem Tableau weder wenden noch mit meinem Verstand durchdringen. Von Begreifen kann nicht die Rede sein. Durch diese monumentale Zerstörung haben die Nazis ein Holocaust Mahnmal geschaffen, dem kein kreativer Akt auch annähernd gleichen kann. Wir sollten es auch nicht versuchen.
Ich fühlte mich im Lager wilkommen geheissen, als ob ich dorthin gehörte. Ich erlaubte es mir, mich behaglich und geschützt zu fühlen, denn ich hatte mir eine Aufgabe gestellt. Ich bin gekommen, einen Stein niederzulegen, und als ich den Schienen entlang lief, die zur Selektionsrampe führen, habe ich beschlossen, daß mein Stein neben Millionen von anderen Steinen zwischen den Schienen ruhen soll. Es ist nicht gleichgültig, wohin man einen Stein legt um der Toten zu gedenken. Hätte ich den Stein in eine zerstörte Barracke gelegt, so hätte es eine ganz bestimmte Bedeutung gehabt. Eine ganz andere als wenn ich ihn in ein ebenso zerstörtes Krematorium geworfen hätte. Die Schienen neben der Rampe, das war die richtige Ruhestelle, und mein Geist hat mir den Gedanken erlaubt, meine drei Großeltern und Miriam* seien damit zufrieden.
Als ich zwischen den steinernen Frauenbarracken zu meiner Linken und den Schornsteinen zu meiner Rechten weiter lief, sah ich vier kleine Rehe zwischen den Schornsteinen weiden. Sie sahen mich aufmerksam an, liefen dann weiter und drehten sich um, um mich wieder anzuschauen. Ich hatte das Gefühl, als wollten sie mich irgendwohinführen und auf mich warteten. Ich folgte langsam. Ich bin ein ziemlich nüchterner Mensch, der immer rationelle Erklärungen sucht. Alles muß belegt werden. Ich bin aber jetzt so weit gekommen, daß wenn man mich nicht davon zu überzeugen versucht, die Rehe seien die Geister der Verstorbenen, dann werde ich die Möglichkeit auch nicht leugnen. Das liegt wieder am Ort.
Ich folgte weiter immer den Rehen nach; auch als sie an einer Querstraße nach rechts bogen, ging ich ihnen nach. Dann plötzlich sprangen sie über die Straße und verschwanden hinter den Krematorien. Ich kehrte um und machte mich auf in die Richtung, wo ich die Krematorien IV und V fand. Ich wurde gewahr, daß mein Tritt sich hier "anders" anfühlte, härter. In diesem Augenblick wußte ich, daß ich auf kompakter Asche ging.
Insgesamt hatte ich ungefähr sechs Stunden in Auschwitz verbracht. Wohlwollende Freunde hier in Amerika meinten, es muß ungeheuer schwierig gewesen sein, diese Reise allein zu unternehmen. Die Wahrheit ist aber ganz anders. Es war viel schwieriger, mich wieder an das flache altägliche Leben zu gewöhnen.
Seitdem ich diese Zeilen schrieb, habe ich erfahren, daß die Mutter und jüngste Schwester meiner Mutter doch nicht in Auschwitz umkamen. Am 15.8.42 stiegen sie in in Berlin Güterwagen ein und wurden nach Riga transportiert. In der Urkunde steht einfach: Todesort: Riga, verschollen. Ihr Tod war wahrscheinlich noch grausamer, als wenn sie in Auschwitz vergast worden wären. Einsatzgruppen und einheimische Hilfswillige im Osten haben Juden brutal mishandelt und dann erschossen. Fotos anderer solcher Aktionen findet man in Goldhagens Hitlers willige Vollstrecker und anderswo.
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© Birgit Pauli-Haack 1997