Shoah Project | Süddeutsche Zeitung vom 29. Januar 2000 | Feuilleton

In dubio pro Hitler?

Die Tücke der Wahrheitsfindung: David Irvings Klage um die Auschwitz-Lüge / Von Neal Ascherson

Während David Irvings Prozess in London gegen Deborah Lipstadt, die Autorin von „Leugnen des Holocaust“, bald in die dritte Woche geht, beginnt das starke Selbstvertrauen des Klägers allmählich zu schwinden. Am dritten Verhandlungstag, als man ihn aufgefordert hatte, den Beweis für seine Behauptung anzutreten, Hitler habe Himmler an einem bestimmten Tag im Jahre 1941 in die Wolfsschanze zitiert, entgegnete Irving noch voller Arroganz: „Der Beweis sind meine große Kenntnisse auf diesem Gebiet!“ Jetzt ist er nervös, manchmal gibt er sich fast demütig. Die Gegenangriffe der Verteidigung, die sich diese Woche auf Irvings These konzentrierte, in den Gaskammern von Birkenau habe es keine Massenvernichtungen gegeben, scheinen ihn offensichtlich zu zermürben.

Aber der melancholische Gesichtsausdruck auf den Gesichtern der alten Überlebenden, die auf zu den Zuhörerbänken im Saal sitzen, ändert sich nicht. Einige von ihnen hoffen, der Prozess werde eine Art von Letztem Gericht sein, das Erbrechen des Siebten Siegels, um die Gerechten zu erheben und die Gottlosen zu ertränken und die Erde zu überfluten mit Wahrheit. Seltsame Gestalten sitzen neben ihnen auf den Zuhörerbänken: Junge Männer in Lederjacken mit Kurzhaarschnitt, die gekommen sind, um zuzusehen, wie ihr Held David Irving die arische Rasse von der „Sippenhaft“ und der „Sechs-Millionen-Lüge“ reinwäscht.

Äußerlich betrachtet geht es um eine ganz normale englische Verleumdungsklage. Doch auch wenn hier alles alltäglich wirkt: in diesem Raum werden einige letzte Chancen verhandelt. Vor allem die letzte Chance, der Wahrheit Genüge zu tun. Diesen Monat ist es 55 Jahre her, dass russische Truppen in die Ruinen von Auschwitz einmarschierten – die SS hatte die Gaskammern gesprengt und die Russen brannten die typhusverseuchten Baracken ab. Immer weniger Zeitzeugen leben noch, die mit eigenen Augen sahen, was damals den Juden und anderen Menschen, die zu Parasiten erklärt worden waren, widerfuhr.

Idealisten wie einige der wachsamen alten Leute auf den Besucherbänken träumen davon, dass dieser Prozess in beeindruckendem Ernst den ultimativen Beweis liefern wird für all das, was im Holocaust geschehen ist. Diese Hoffnung wird kaum in Erfüllung gehen.

Irvings letzte Option schon eher. Seit ungefähr vierzig Jahren arbeitet dieser seltsame Historiker, Chronist oder Propagandist an ein und demselben riesigen Projekt, dem man den Arbeitstitel „Die Rehabilitierung Adolf Hitlers“ geben könnte. Er ist berühmt für seine Fähigkeit, unbekannte Dokumente aus dem Dritten Reich aufzustöbern. Aber seine Interpretationen all dieser Dokumente stießen bislang einhellig auf Ablehnung.

Irving räumt – auch jetzt vor Gericht – ein, dass massenhaft europäische Juden ermordet wurden. Aber er will Zeugen beibringen, die „beweisen“ sollen, dass die Gaskammern von Auschwitz ein reiner Mythos seien. „Systematische“ Ermordungen habe es nicht gegeben. In Irvings Version der Geschichte gab es nur Morde, die eigenmächtig von undisziplinierten jungen SS-Offizieren oder von Ukrainern und Balten begangen wurden. Vor allem betont Irving, dass Adolf Hitler nicht wusste, in welcher Größenordnung gemordet wurde und dass er, hätte er es gewusst, diese Ermordungen sofort hätte stoppen lassen.

Sollte Irving diesen Fall gewinnen, dann wären die Schadensersatzzahlungen noch das geringste Übel. Viel schlimmer wäre, dass damit seine Glaubwürdigkeit als Historiker gerettet würde; seine Version des Holocausts und seine Interpretation Hitlers würden plötzlich als plausibel gelten. Und in all den Ländern, in denen die Leugnung des Holocaust ein Verbrechen darstellt, könnten sich Neo-Faschisten und Antisemiten bei ihrer Verteidigung auf den Londoner Irving-Prozess berufen.

Während ich letzte Woche dem Prozess beiwohnte, erinnerte ich mich an den Satz: „Kein Ort ist weniger geeignet, die Wahrheit herauszufinden, als ein Englischer Gerichtssaal.“ Dieser Satz fiel anlässlich eines der spektakulärsten Verleumdungsprozesse des letzten Jahrhunderts, dem Kosaken-Prozess in dem Jahre 1989, in dem Lord Aldington Graf Tolstoy verklagte. Aldington war 1945 Brigadegeneral der Britischen Armee in Österreich. Die Britische Armee sah sich damals plötzlich für das Schicksal einer Riesenmenge Soldaten und Zivilisten aus Russland, der Ukraine, dem Kaukasus und Jugoslawien verantwortlich, die alle zuvor mit den Deutschen kollaboriert hatten oder vor den vorrückenden Kommunisten geflohen waren. Unter ihnen befanden sich auch Kosakengeneräle aus der Zeit der Bürgerkriege. Tolstoy hatte nun Aldington beschuldigt, 70 000 dieser Leute mit Hilfe von Tricks und Gewalt der Rache Stalins und Titos ausgeliefert zu haben.

Aldington gewann seine Klage; die Jury sprach ihm 1,5 Millionen Pfund Schadensersatz zu. Aber im Verlauf des Prozesses wandelten sich die historischen Nachforschungen in ein undurchschaubares Gemenge aus Ängstlichkeit und Konfusion. Die Jury befand zwar, Aldington sei nicht verantwortlich zu machen. Gleichzeitig wurde aber verdunkelt, wer denn nun die Verantwortung trug für eines der wenigen schweren Kriegsverbrechen, deren sich die Britische Armee während des Zweiten Weltkriegs schuldig gemacht hatte.

Zurück zum Irving-Prozess: In dem Moment, in dem wir uns von den Sitzen erheben, da der Richter den Saal betritt, erkenne ich in ihm jenen Charles Gray, der vor elf Jahren Lord Aldingtons Anwalt war. Und da kommt auch schon der stets ironische und unnachgiebige Anwalt von Lipstadt herein – erst als er seine Perücke aufsetzt, entpuppt er sich als der Mann, der damals Tolstoys Anwalt und Charles Grays Gegner war: Richard Rampton. Nun also die beiden hier.

Beide gaben sie seinerzeit ihr Bestes für ihre Klienten, und keinem von beiden ist die Schuld dafür zu geben, dass das Gericht damals Geschichte wie zu einem giftigem Schlamm verquirlte. Aber die Geschichte des jüdischen Holocaust, auch wenn es das furchtbarste Kapitel in der modernen europäischen Geschichte ist, gleicht der Kosaken-Tragödie in zwei Punkten: weder ist der Sachverhalt einfach, noch sind alle Fakten bekannt.

Es gibt zwar endlose Regale voller Dokumente, Todeslisten, Blaupausen. Aber es gibt auch riesige Wissenslücken. Wieviele Menschen sind gestorben? Wusste Hitler von der Vernichtung? Hat er sie selbst befohlen? Ich habe fast vierzig Jahre lang an SS-Prozessen teilgenommen und Überlebende befragt. Und ich bin mir sicherer denn je, dass Hitler selbst den Auftrag gab. Aber eine von ihm unterzeichnete Anordnung oder auch nur ein Brief oder eine Gesprächsaufzeichnung, die einwandfrei auf die Existenz eines solchen Dokuments schließen ließe, wurde nie gefunden. Wie groß ist da schon die Chance, dass dieser Prozess in London Licht ins Dunkel dieser Geheimnisse bringt?

Der Prozess hat viele außergewöhnliche Komponenten. Beide Parteien stimmten darin überein, dass eine konventionelle Geschworenengruppe mit den Dokumentmassen, von denen der Großteil auch noch auf deutsch geschrieben ist, überfordert wäre. Deshalb einigte man sich darauf, dass Richter Justice Gray den Prozess alleine führt. Er wird das Urteil sprechen, die Gerichtskosten (die bei etwa 10 Millionen Pfund liegen werden) und die eventuelle Höhe des Schadensersatzes festlegen. Ganz alleine. Ihm stehen nicht einmal Gutachter oder Hilfsrichter zur Seite.

Und David Irving führt seine Klage selber, ohne Anwalt. Das mag beeindrucken, bedeutet aber zugleich, dass der Richter an Irvings juristischen Dilettantismus Zugeständnisse machen und zugleich sicherstellen muss, dass Irving seine Rechte wahrt. Frau Lipstadt wiederum hat sich dazu entschlossen, nicht auszusagen. Sie sitzt stumm in der ersten Reihe, immer mit ihrem Laptop beschäftigt und sieht recht unglücklich aus.

Zwei Wochen suchte Irving seinen Ruf zu verteidigen, während Rampton zu beweisen suchte, dass Irving ein Lügner ist. Doch inzwischen, da sich der Prozess jetzt auf die detaillierte Widerlegung von Irvings Behauptungen zu Auschwitz konzentriert, scheint das Verfahren die Richtung zu ändern. Als wäre David Irving der Beklagte und Deborah Lipstadt die Klägerin. Irving, in die Enge getrieben, zieht seine riesigen Schultern bis zu den Ohren hoch. Seine Augen funkeln wie die eines Dachses. Geschichtsdetails werden aus dem Kontext gerissen, uminterpretiert und von beiden Seiten als Flammenwerfer benutzt, mit denen man den Gegner zu versengen sucht.

Einmal, in einem Streitgespräch darüber, ob nun der Führer die Vernichtung der Juden befohlen habe oder nicht, erinnerte Irving Rampton daran, dass man nie einen schriftlichen Befehl Hitlers gefunden habe. Das, erwiderte Rampton, sei nur ein Beweis ex negativo. Lautstark gab Irving zurück: „Ich muss Sie an das englische Rechtsprinzip erinnern, demzufolge jemand als unschuldig zu betrachten ist, bis man ihm seine Schuld hat nachweisen können. Habe ich recht?“ Da war es für einen Moment lang still im Gerichtssaal. Man sprach von Adolf Hitler.


Der Autor ist ständiger Kolumnist der Wochenzeitung Observer.

Aus dem Englischen von Alex Rühle


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