In dubio pro Hitler?
Die Tücke der Wahrheitsfindung: David Irvings Klage
um die Auschwitz-Lüge / Von Neal Ascherson
Während David Irvings Prozess in London gegen Deborah
Lipstadt, die Autorin von Leugnen des
Holocaust, bald in die dritte Woche geht, beginnt
das starke Selbstvertrauen des Klägers
allmählich zu schwinden. Am dritten Verhandlungstag,
als man ihn aufgefordert hatte, den Beweis für seine
Behauptung anzutreten, Hitler habe Himmler an einem
bestimmten Tag im Jahre 1941 in die Wolfsschanze zitiert,
entgegnete Irving noch voller Arroganz: Der Beweis
sind meine große Kenntnisse auf diesem Gebiet!
Jetzt ist er nervös, manchmal gibt er sich fast
demütig. Die Gegenangriffe der Verteidigung, die sich
diese Woche auf Irvings These konzentrierte, in den
Gaskammern von Birkenau habe es keine Massenvernichtungen
gegeben, scheinen ihn offensichtlich zu zermürben.
Aber der melancholische Gesichtsausdruck auf den
Gesichtern der alten Überlebenden, die auf zu den
Zuhörerbänken im Saal sitzen, ändert sich
nicht. Einige von ihnen hoffen, der Prozess werde eine Art
von Letztem Gericht sein, das Erbrechen des Siebten
Siegels, um die Gerechten zu erheben und die Gottlosen zu
ertränken und die Erde zu überfluten mit
Wahrheit. Seltsame Gestalten sitzen neben ihnen auf den
Zuhörerbänken: Junge Männer in Lederjacken
mit Kurzhaarschnitt, die gekommen sind, um zuzusehen, wie
ihr Held David Irving die arische Rasse von der
Sippenhaft und der
Sechs-Millionen-Lüge reinwäscht.
Äußerlich betrachtet geht es um eine ganz
normale englische Verleumdungsklage. Doch auch wenn hier
alles alltäglich wirkt: in diesem Raum werden einige
letzte Chancen verhandelt. Vor allem die letzte Chance,
der Wahrheit Genüge zu tun. Diesen Monat ist es 55
Jahre her, dass russische Truppen in die Ruinen von
Auschwitz einmarschierten die SS hatte die
Gaskammern gesprengt und die Russen brannten die
typhusverseuchten Baracken ab. Immer weniger Zeitzeugen
leben noch, die mit eigenen Augen sahen, was damals den
Juden und anderen Menschen, die zu Parasiten erklärt
worden waren, widerfuhr.
Idealisten wie einige der wachsamen alten Leute auf den
Besucherbänken träumen davon, dass dieser
Prozess in beeindruckendem Ernst den ultimativen Beweis
liefern wird für all das, was im Holocaust geschehen
ist. Diese Hoffnung wird kaum in Erfüllung gehen.
Irvings letzte Option schon eher. Seit ungefähr
vierzig Jahren arbeitet dieser seltsame Historiker,
Chronist oder Propagandist an ein und demselben riesigen
Projekt, dem man den Arbeitstitel Die
Rehabilitierung Adolf Hitlers geben könnte. Er
ist berühmt für seine Fähigkeit, unbekannte
Dokumente aus dem Dritten Reich aufzustöbern. Aber
seine Interpretationen all dieser Dokumente stießen
bislang einhellig auf Ablehnung.
Irving räumt auch jetzt vor Gericht
ein, dass massenhaft europäische Juden ermordet
wurden. Aber
er will Zeugen beibringen, die beweisen
sollen, dass die Gaskammern von Auschwitz ein reiner
Mythos seien. Systematische Ermordungen habe
es nicht gegeben. In Irvings Version der Geschichte gab es
nur Morde, die eigenmächtig von undisziplinierten
jungen SS-Offizieren oder von Ukrainern und Balten
begangen wurden. Vor allem betont Irving, dass Adolf
Hitler nicht wusste, in welcher Größenordnung
gemordet wurde und dass er, hätte er es gewusst,
diese Ermordungen sofort hätte stoppen lassen.
Sollte Irving diesen Fall gewinnen, dann wären die
Schadensersatzzahlungen noch das geringste Übel. Viel
schlimmer wäre, dass damit seine Glaubwürdigkeit
als Historiker gerettet würde; seine Version des
Holocausts und seine Interpretation Hitlers würden
plötzlich als plausibel gelten. Und in all den
Ländern, in denen die Leugnung des Holocaust ein
Verbrechen darstellt, könnten sich Neo-Faschisten und
Antisemiten bei ihrer Verteidigung auf den Londoner
Irving-Prozess berufen.
Während ich letzte Woche dem Prozess beiwohnte,
erinnerte ich mich an den Satz: Kein Ort ist weniger
geeignet, die Wahrheit herauszufinden, als ein Englischer
Gerichtssaal. Dieser Satz fiel anlässlich eines
der spektakulärsten Verleumdungsprozesse des letzten
Jahrhunderts, dem Kosaken-Prozess in dem Jahre 1989, in
dem Lord Aldington Graf Tolstoy verklagte. Aldington war
1945 Brigadegeneral der Britischen Armee in
Österreich. Die Britische Armee sah sich damals
plötzlich für das Schicksal einer Riesenmenge
Soldaten und Zivilisten aus Russland, der Ukraine, dem
Kaukasus und Jugoslawien verantwortlich, die alle zuvor
mit den Deutschen kollaboriert hatten oder vor den
vorrückenden Kommunisten geflohen waren. Unter ihnen
befanden sich auch Kosakengeneräle aus der Zeit der
Bürgerkriege. Tolstoy hatte nun Aldington
beschuldigt, 70 000
dieser Leute mit Hilfe von Tricks und Gewalt der Rache
Stalins und Titos ausgeliefert zu haben.
Aldington gewann seine Klage; die Jury sprach ihm 1,5
Millionen Pfund Schadensersatz zu. Aber im Verlauf des
Prozesses wandelten sich die historischen Nachforschungen
in ein undurchschaubares Gemenge aus Ängstlichkeit
und Konfusion. Die Jury befand zwar, Aldington sei nicht
verantwortlich zu machen. Gleichzeitig wurde aber
verdunkelt, wer denn nun die Verantwortung trug für
eines der wenigen schweren Kriegsverbrechen, deren sich
die Britische Armee während des Zweiten Weltkriegs
schuldig gemacht hatte.
Zurück zum Irving-Prozess: In dem Moment, in dem wir
uns von den Sitzen erheben, da der Richter den Saal
betritt, erkenne ich in ihm jenen Charles Gray, der vor
elf Jahren Lord Aldingtons Anwalt war. Und da kommt auch
schon der stets ironische und unnachgiebige Anwalt von
Lipstadt herein erst als er seine Perücke
aufsetzt, entpuppt er sich als der Mann, der damals
Tolstoys Anwalt und Charles Grays Gegner war: Richard
Rampton. Nun also die beiden hier.
Beide gaben sie seinerzeit ihr Bestes für ihre
Klienten, und keinem von beiden ist die Schuld dafür
zu geben, dass das Gericht damals Geschichte wie zu einem
giftigem Schlamm verquirlte. Aber die Geschichte des
jüdischen Holocaust, auch wenn es das furchtbarste
Kapitel in der modernen europäischen Geschichte ist,
gleicht der Kosaken-Tragödie in zwei Punkten: weder
ist der Sachverhalt einfach, noch sind alle Fakten
bekannt.
Es gibt zwar endlose Regale voller Dokumente, Todeslisten,
Blaupausen. Aber es gibt auch riesige Wissenslücken.
Wieviele Menschen sind gestorben? Wusste Hitler von der
Vernichtung? Hat er sie selbst befohlen? Ich habe fast
vierzig Jahre lang an SS-Prozessen teilgenommen und
Überlebende befragt. Und ich bin mir sicherer denn
je, dass Hitler selbst den Auftrag gab. Aber eine von ihm
unterzeichnete Anordnung oder auch nur ein Brief oder eine
Gesprächsaufzeichnung, die einwandfrei auf die
Existenz eines solchen Dokuments schließen
ließe, wurde nie gefunden. Wie groß ist da
schon die Chance, dass dieser Prozess in London Licht ins
Dunkel dieser Geheimnisse bringt?
Der Prozess hat viele außergewöhnliche
Komponenten. Beide Parteien stimmten darin überein,
dass eine konventionelle Geschworenengruppe mit den
Dokumentmassen, von denen der Großteil auch noch auf
deutsch geschrieben ist, überfordert wäre.
Deshalb einigte man sich darauf, dass Richter Justice Gray
den Prozess alleine führt. Er wird das Urteil
sprechen, die Gerichtskosten (die bei etwa 10 Millionen
Pfund liegen werden) und die eventuelle Höhe des
Schadensersatzes festlegen. Ganz alleine. Ihm stehen nicht
einmal Gutachter oder Hilfsrichter zur Seite.
Und David Irving führt seine Klage selber, ohne
Anwalt. Das mag beeindrucken, bedeutet aber zugleich, dass
der Richter an Irvings juristischen Dilettantismus
Zugeständnisse machen und zugleich sicherstellen
muss, dass Irving seine Rechte wahrt. Frau Lipstadt
wiederum hat sich dazu entschlossen, nicht auszusagen. Sie
sitzt stumm in der ersten Reihe, immer mit ihrem Laptop
beschäftigt und sieht recht unglücklich aus.
Zwei Wochen suchte Irving seinen Ruf zu verteidigen,
während Rampton zu beweisen suchte, dass Irving ein
Lügner ist. Doch inzwischen, da sich der Prozess
jetzt auf die detaillierte Widerlegung von Irvings
Behauptungen zu Auschwitz konzentriert, scheint das
Verfahren die Richtung zu ändern. Als wäre David
Irving der Beklagte und Deborah Lipstadt die
Klägerin. Irving, in die Enge getrieben, zieht seine
riesigen Schultern bis zu den Ohren hoch. Seine Augen
funkeln wie die eines Dachses. Geschichtsdetails werden
aus dem Kontext gerissen, uminterpretiert und von beiden
Seiten als Flammenwerfer benutzt, mit denen man den Gegner
zu versengen sucht.
Einmal, in einem Streitgespräch darüber, ob nun
der Führer die Vernichtung der Juden befohlen habe
oder nicht, erinnerte Irving Rampton daran, dass man nie
einen schriftlichen Befehl Hitlers gefunden habe. Das,
erwiderte Rampton, sei nur ein Beweis ex negativo.
Lautstark gab Irving zurück: Ich muss Sie an
das englische Rechtsprinzip erinnern, demzufolge jemand
als unschuldig zu betrachten ist, bis man ihm seine Schuld
hat nachweisen können. Habe ich recht? Da war
es für einen Moment lang still im Gerichtssaal. Man
sprach von Adolf Hitler.
Der Autor ist ständiger Kolumnist der Wochenzeitung
Observer.
Aus dem Englischen von Alex Rühle