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Klemperer-Tagebücher 'Ich will Zeugnis ablegen...'

SPIEGEL-Archiv 10/96
Seite 232-237

"Stalins Genialität"

Victor Klemperers Tagebücher aus der Nazi-Zeit bewegen die Nation. Doch welche Rolle spielte der jüdische Romanist nach dem Krieg in der DDR? Bisher unbeachtete Dokumente zeigenAuch er betrieb SED-Propaganda.

Sie waren das Ereignis des Bücherherbstes 1995*Victor Klemperers Tagebücher der Schreckensjahre 1933 bis 1945. Vom "Literarischen Quartett" bis zur taz priesen die Rezensenten die Einzigartigkeit dieses Protokolls der Judenverfolgung, die beklemmende Authentizität, in welcher der Alltag im Nazi-Reich so prosaisch wie bitter, wahrhaft minutiös ausgebreitet wird.

Ende Januar drängten sich an die 10 000 Menschen zu einer mehrtägigen Nonstop-Lesung der Tagebücher in die Münchener Kammerspiele. Bis jetzt sind 90 000 Exemplare verkauft, Bühnen- und Hörfunkadaptionen in Arbeit. Ein Ende dieses überraschenden Erfolgs ist nicht abzusehen.

Daß nach den umfänglichen Gedenkfeiern zum 50. Jahrestag des Kriegsendes die Aufzeichnungen eines weithin vergessenen Philologen zum medienträchtigen Bestseller werden konnten, ist sogar dem Herausgeber Walter Nowojski, 64, ein Rätsel"Vielleicht liegt es daran, daß Klemperer ein Anti-Held

war, ein sympathischer, ganz und gar unspektakulärer Mensch."

Acht Jahre lang hatte Nowojski, ein Klemperer-Schüler und bis 1990 Chefredakteur der DDR-Zeitschrift Neue Deutsche Literatur, mit Unterstützung der Witwe, Hadwig Klemperer, die 5000 Seiten in winziger, nur schwer lesbarer Handschrift entziffert, übertragen und gekürzt. Manchmal mußten wegen Klemperers Neigung zu "Pidgin-Englisch, Pidgin-Französisch und Pidgin-Griechisch" (Nowojski) weitere Fachleute herangezogen werden.

Mag sein, daß gerade diese eindringliche Chronik (SPIEGEL 52/1995) eines einzelnen und ihre massenhafte Rezeption, die nicht ganz ohne einen subtilen Gruseleffekt zu verstehen ist, ein Signal für die beginnende Historisierung des Nationalsozialismus und der Judenvernichtung gesetzt haben.

Dies wäre auch eine Erklärung dafür, daß das öffentliche Bild des wiederentdeckten Zeitzeugen Victor Klemperer wesentlich auf jene zwölf Jahre beschränkt bleibt, obwohl er, am 9. Oktober 1881 geboren, von seinem 16. Lebensjahr an, von 1897 bis zu seinem schweren Asthma-Anfall Ostern 1959 wie ein Besessener Tagebuch schrieb; beginnend im Kaiserreich Wilhelms II. über die Weimarer Republik und Hitlers "Drittem Reich" bis zur DDR Walter Ulbrichts.

Allein die knapp 15 Nachkriegsjahre und seine Rolle in der DDR blieben weitgehend im dunkeln, mit Ausnahme einer kurzen Periode von Juni bis Dezember 1945, die im bereits veröffentlichten "Dresdner Tagebuch" festgehalten ist*. Diese Notizen aus der Nachkriegszeit bergen ein düsteres Kapitel deutscher (und europäischer) GeistesgeschichteAuch Victor Klemperer verfiel, auf Zeit und in bizarrer Weise, dem Stalin-Kult, den er noch unmittelbar nach Kriegsende mit der einstigen Hitler-Anbetung verglichen hatte.

In einem Vortrag von 1953, "Der alte und der neue Humanismus", zieht er eine große Linie von Dante und Petrarca zu Marx und Engels, Lenin und Stalin, von der Antike über Renaissance, Reformation und Aufklärung bis zum endlich siegreichen Sozialismus. Dabei betreibt er, 15 Jahre nach den stalinistischen Schauprozessen, einigen Aufwand, um sich in die historische Dialektik des "erlösenden neuen Humanismus" einzufühlen.

Die merkwürdig sanfte Bescheidenheit, in der der große Sowjetführer im Gespräch mit einem amerikanischen Journalisten das Attribut des "Genies" zurückwies, erklärt Klemperer mit dem "Ethos des neuen Humanismus""Er hat Raum für die größte Persönlichkeit. Aber die Größe gesteht er ihr nur dann zu, wenn sie im Dienst der Allgemeinheit arbeitet." So wachse aus dem alten, seit der Antike bestehenden Gegensatz von Persönlichkeit und Masse "die neue Synthese des Kollektivs".

Noch harren die Tagebücher aus dieser Zeit der gründlichen Auswertung und Veröffentlichung. Im kommenden Herbst werden zunächst die Aufzeichnungen aus den Jahren 1918 bis 1933 im Berliner Aufbau Verlag erscheinen. Hier berichtet er über Streitereien mit Gustav Landauer, den latenten Antisemitismus der zwanziger Jahre und, voller Begeisterung, über die neuesten Filme mit Asta Nielsen und Emil Jannings. Doch erst die Publikation der gesamten, über mehr als 60 Jahre hinweg geführten Tagebücher ergäbe ein überzeugendes Bild dieser Biographie voller Widersprüche.

Klemperers Leben war eine Odyssee durchs Jahrhundert und erinnert darin an die Schicksale von Manes Sperber und Arthur Koestler, Anna Seghers und Alfred Kantorowicz - Intellektuelle, die den abenteuerlichen Versuch unternahmen, die Maximen der Vernunft und der Aufklärung zu verwirklichenAlle gerieten dabei in die chaotischen Strudel der Zeit, die jede Vision zur blutigen Karikatur werden ließ.

Je größer der Abstand, je weiter die Perspektive auf das Säkulum, desto aberwitziger das Verhältnis von Subjekt und Geschichte, Wahrheit und Irrtum, Glaube und Enttäuschung, Größe und Lächerlichkeit. Auch der dem Holocaust entronnene Victor Klemperer hat diese Spanne durchlebt.

Der Kriegsfreiwillige von 1915 blieb auch nach zwei Weltkriegen, Novemberrevolution, Weimar und Auschwitz ein deutscher Bildungsbürger, der Voltaire liebte und Diderot bewunderte, ein liberalkonservativer Citoyen, dem die

russische Besatzung mißfiel und zugleich für den Neuanfang unabdingbar schien"Ich möchte an den linkesten Flügel der KPD, ich möchte für Rußland sein", vertraute er seinem Tagebuch an.

Dennoch ist seine Seele hin und her gerissen. Am 26. Juli 1945 notiert er"Noch dreht sich die Scheibe der petits chevaux immerfort. Rußland? USA? Demokratie? Communismus? Professor im Amt? Emeritiert? Unpolitisch? Politisch festgelegt? Fragezeichen über Fragezeichen."

Sein Schwanken ist eher Hilflosigkeit denn politische Zerrissenheit, eine merkwürdige Unentschiedenheit, die sich ein klares analytisches Urteil nicht zutraut. Selbst "der Übermasse" seiner Tagebücher steht er "hilflos gegenüber". Er denkt, wie er schreibt. Erzählend und wägend, die Dinge neben- und gegeneinander stellend, doch selten zu scharfer Pointierung, gar Polemik fähig.

Der schneidende Aphorismus, die leidenschaftliche Debatte sind seine Sache nicht. Im tiefsten Grunde ist er unpolitisch, ja naiv. Auch 1933 begann er erst dann regelmäßig Zeitung zu lesen, als ihn die Verhältnisse dazu zwangen.

"Die Amerikaner sind nicht besser als die Russen, eher schlechter", schreibt er am 1. August 1945 ins Tagebuch.

Am 23. November 1945 erklärt er seinen Eintritt in die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD), weil nur die "allerentschiedenste Linksrichtung aus dem Elend" führe. Doch paradox, das Elend sah er auch und immer noch in der sowjetischen Propaganda, die Stalin als "den Größten derzeit Lebenden, den genialsten Strategen" preist.

"Von Kommunismus und Marxismus hatte er ja keine Ahnung", sagt Hadwig Klemperer, seine zweite, 1952 geheiratete Frau, die heute 70 Jahre alt ist. "Und der revolutionäre Gleichmacher Rousseau war ihm immer schon suspekt."

Er hatte auch nichts gemein mit jenen Intellektuellen der zwanziger Jahre, die aus tiefster Überzeugung Kommunisten wurden oder mit ihnen sympathisierten - und die später als Renegaten dem Stalinismus den Kampf ansagten. Auch Arthur Koestlers antistalinistischen Epochenroman "Sonnenfinsternis", dessen französische Ausgabe 1946 die Kommunisten im Großraum Paris teilweise aufkauften und vernichteten, nahm Klemperer erst zehn Jahre später, nach der Veröffentlichung von Chruschtschows Geheimrede am 25. Februar 1956 vor dem XX. Parteitag der KPdSU, zur Kenntnis. Ein später Schock, zu spät für den 75jährigen.

1945 wollte er noch "Antigone an die Arbeiter bringen", das neue, bessere Deutschland aufbauen helfen, gar zu gern am "Auspumpen der Jauchegrube Deutschlands" mitarbeiten, wie er den befreundeten Meyerhofs nach New York schrieb. "Ich will der KPD begreiflich machen", bemerkte er am 14. Dezember 1945, "daß ich in ihrem Interesse Humanismus und Nichtpolitik ins Centrum stellen möchte."

So reihte sich der Sohn des Rabbiners Wilhelm Klemperer, der Communismus mit dem hohen C der humanistischen Gesinnung schrieb, in die "fortschrittliche bürgerliche Tradition" ein, "an der Seite der kämpfenden Arbeiterklasse", wie das SED-Zentralorgan Neues Deutschland aus Anlaß seines 20. Todestages im Februar 1980 berichtete.

Seinen alten Lehrstuhl an der Technischen Hochschule Dresden, von dem ihn 1935 die Nazis vertrieben hatten, erhielt er zurück; zugleich wurde er Leiter der neugegründeten Dresdner Volkshochschule, Mitglied und, wie die Romanistikprofessorin Rita Schober später lobte, "einer der eifrigsten und unermüdlichsten Mitarbeiter" im Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands. SED-Mitglied Klemperer wurde in die Akademie der Wissenschaften aufgenommen und engagierte sich in der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes wie bei der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, war Abgeordneter in der Volkskammer und avancierte 1952 zum DDR-Nationalpreisträger III. Klasse. 1956 erhielt Klemperer den Vaterländischen Verdienstorden in Silber.

Als Ordinarius der Universität Greifswald (seit 1947) hielt er auch Vorlesungen in Halle, an der Humboldt-Universität in Berlin sowie weiterhin in Dresden. Er war populär in der DDR, vor allem im Umkreis der vielen Kulturbund-Dependancen, einer Art sozialistischer Volkshochschule. Als müsse er die verlorene Zeit der zwölfjährigen Isolation aufholen, reiste und schrieb und redete der 70jährige, ohne sich und seine Gesundheit zu schonen.

"Wenn man einen Vortrag über Balzac, Rabelais, Zola oder Stendhal brauchte, schrieb man ihm, und dann kam er, auch in die kleinste Stadt", erzählt Hadwig Klemperer. Schon nach dem Ersten Weltkrieg hatte der Unteroffizier Klemperer heimkehrenden Kameraden in München, die ein Studium aufnehmen wollten, abendliche Kollegs über die Weltliteratur gehalten.

Für seine freie und lebhafte Vortragsweise berühmt, klopften nun seine begeisterten Studenten in der "Arbeiter- und Bauern-Fakultät" der DDR minutenlang auf die Pulte, bevor er sich noch einmal vor dem Auditorium verneigte und begann, über Candide und die beste aller Welten zu sprechen. Späte Genugtuung für einen Überlebenden.

Zu Hause allerdings war Politik, die zum Schicksal seiner zweiten Lebenshälfte wurde, kein Thema. "Er vermied jedes Gespräch darüber", sagt Hadwig Klemperer.

Auch in seinen geliebten Tagebüchern, in die er sogar nicht abgesandte Briefe einlegte, kommen die Dinge, die die Welt bewegen, nicht vor"Ab 1947 wurden die Eintragungen immer persönlicher und immer unpolitischer. Da ist viel Klatsch über Kollegen drin, aber nur ein oder zwei Sätze zum Slansky-Prozeß oder zum Ungarn-Aufstand."

Über das Zuchthaus Bautzen hat er "schlimme Dinge" (Hadwig Klemperer) gehört, beläßt es aber bei einer kurzen Bemerkung im Tagebuch"Grauenhafte Zeiten".

Um so verblüffender jene Äußerungen Klemperers, die in krassem Gegensatz dazu offen politisch, ja propagandistisch waren, unterdessen aber in Vergessenheit geraten sind.

Im Gespräch mit einem Vertreter des Deutschen Presse-Dienstes (dpd) am 11. Juni 1949 in München sagte er, die Arbeiter in der "Sowjetzone" gingen "freiwillig" in die sächsischen Uranbergwerke, um aus Sachsen "eines der größten und bestorganisierten Industrieländer Europas" zu machen. Offiziell war bereits zugegeben worden, daß sie zwangsverpflichtet wurden.

Laut einer anderen dpd-Meldung vom selben Tage hatte Klemperer auf einer Sitzung der Kulturkommission der bayerischen KPD erklärt, daß "auch die Sowjetunion seit kurzer Zeit die Atombombe" herstelle. Für ihn sei "jeder Panzer in der Sowjetzone ein Zeichen des Friedens".

Im Juli 1952, ein Jahr vor dem Aufstand vom 17. Juni 1953, hielt er vor dem "Klub der Kulturschaffenden" zu Berlin einen Vortrag: "Zur gegenwärtigen Sprachsituation in Deutschland", den er anschließend auch in Warschau, Krakau und Breslau zum besten gab.

Darin feiert er "Stalins Genialität", vergleicht ihn gar mit Richelieu, preist die Betrachtungen des großen Sowjetführers zum Verhältnis von Nation und Sprache und beklagt die "geistige Entdeutschung des deutschen Westens" durch die "verräterische Adenauerregierung".

Stalin dagegen, der "die Freiheit der Welt schützt", erweise "in seinen Sprachreflexionen" selbst noch der "Grammatik besondere Verehrung". Als sei er nicht der hochsensible, skeptische Philologe, der präzise Beobachter des Alltags, der vielgerühmte Autor der "Lingua Tertii Imperii" (1947), einer Analyse der Sprache des "Dritten Reiches", bedient sich Klemperer der schlimmsten Propagandaphrasen des späten Stalinismus.

Plötzlich polemisiert der frankophile deutsch-jüdische Kosmopolit gegen die westlich-bürgerliche "Dekadenzpoesie" a la Baudelaire, Mallarme und Rimbaud, gegen die er den östlichen "Humanismus" in Stellung bringt. Überall im Westen wittert er, von den "amerikanischen Gewaltherren" und ihrer "faschistischen Gesinnung" ins Werk gesetzt, "Kosmopolitismus, Amerikanismus und Dekadenz" - klassische Topoi des Antisemitismus.

Stalin als Retter der deutschen Kulturnation vor den amerikanischen Faschistenein Wahnbild. Jenseits des zeitgenössischen politischen Kontextes von Kaltem Krieg und Stalin-Note ist Klemperers skurrile Mischung aus humanistischer Ideologie, pedantischer Sprachsophistik und idealistischer Schwarmgeisterei nur als Produkt des 19. Jahrhunderts zu verstehen.

"Er kam ja aus der Bismarck-Zeit", sagt seine Frau. "Für die Partei war er ein alter Mann, der nicht mehr ganz mitkam. Selbst die Stasi ließ ihn in Ruhe. Sie hatten ihn ja."

Klemperer hätte das nicht tun müssen. In gewisser Weise war er unangreifbar, gerade weil er nie ein Kommunist gewesen war, weder Spanienkämpfer noch Moskau-Emigrant, sondern ein "Beutesozialist", wie die abfällige Bezeichnung eines gewonnenen Bourgeois damals lautete. "Aber er glaubte immer an das, was er im Augenblick tat."

Deutscher Idealist, der er war, konnte sich in seinen Augen stets nur die Wirklichkeit vor der Idee blamieren, nie aber die Idee vor der Wirklichkeit.

Am Ende, 1960, hielt der Romanist und Kollege Werner Krauss, Widerstandskämpfer aus dem Umkreis der "Roten Kapelle", die bewegende Totenrede auf Victor Klemperer. In Krauss' Wohnung hing derweil immer noch ein Stalin-Porträt an der Wand.

Mag sein, daß Klemperers lebenslanges Gefühl, weder den Erfolg seines Bruders Georg, der als Arzt 1923 gar ans Krankenbett Lenins gerufen wurde, noch das Genie eines großen Wissenschaftlers zu besitzen, die unbeirrbare, zutiefst romantische Suche nach dem endlich Guten, Wahren, Schönen vorantrieb.

Dabei hat sich sein fast 80 Jahre währendes Leben erschöpft. Daß er zum Opfer und hellsichtigen Zeitzeugen der schrecklichsten Jahre des Jahrhunderts wurde, hat auch ihn nicht vor den Irrtümern der Epoche geschützt.

Reinhard Mohr

* Victor Klemperer"Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945". Aufbau Verlag, Berlin; 2 Bände, zusammen 1696 Seiten; 98 Mark.

* Victor Klemperer"Zwiespältiger denn je. Dresdner Tagebuch 1945, Juni bis Dezember". Dresdner Geschichtsverein, Dresden; 144 Seiten; 10 Mark.

© Birgit Pauli-Haack 1997