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KÖNIGSKINDER - Eine wahre Liebe
gefunden von Reinhard Kaiser


gelesen von Peter Asmussen.

Mai 1991. Reinhard Kaiser ersteigert auf einer Auktion einen Karton mit Briefmarken. Bei der vorausgehenden Besichtigung fand er in dieser Pappschachtel, die gefüllt war mit Alben, Steckkarten, Pergamintüten und Zigarrendosen voller Briefmarken, auch "einen Stapel von ungefähr dreißig Umschlägen, alle vom gleichen Absender in Königsberg und einigen deutschen Städten zwischen 1935 und 1939 aufgegeben, alle an die gleiche Empfängerin unter der stets gleichen Stockholmer Adresse gerichtet." Er trug den Karton, den er ersteigert hatte nach Hause - gespannt, was er enthalten würde, aber nicht darauf gefaßt, daß es eine Geschichte war, die ihn für Jahre nicht loslassen sollte. Diese etwa dreißig Briefe wurden zum Kern dieses Buches.

Autor der Briefe ist Rudolf Kaufmann aus Königsberg. 1933 wird er, weil er Jude ist, seines Postens an der Universität Greifswald enthoben. Gerade noch rechtzeitig, Anfang 1933, war in den Abhandlungen aus dem Greifswalder Geologisch-paläontologischen Institut seine Doktorarbeit erschienen. Diese Doktorarbeit wird es Rudolf Kaufmann leichter gemacht haben, außerhalb Deutschlands die Stellen zu finden, an denen er noch eine Zeitlang auf seinem Gebiet weiterarbeiten konnte: 1934 für ein paar Monate in Kopenhagen, danach am Geologischen Institut in Bologna, ebenfalls nur auf Zeit und zu Bedingungen, die es nötig machten, daß er sich ein Zubrot verdiente.

Er arbeitet in einem Fotoatelier und lernt die Schwedin Ingeborg Magnusson aus Stockholm kennen, die er während ihres Italienurlaubs ablichtet. Es entwickelt sich eine innige Liebesbeziehung und ein intensiver Briefverkehr zwischen Bologna und Stockholm. Rudolf Kaufmann sinnt nach Möglichkeiten des Zusammenlebens, besucht sie in Stockholm und siedelt wieder nach Deutschland zurück. Vergeblich versucht er in Schweden, u.a. bei dem Asienforscher Sven Hedin, Arbeit zu bekommen. Im faschistischen Deutschland wird er aufgrund seiner jüdischen Abstammung, die ihm als Protestant, wahrscheinlich nicht so bewußt war, drangsaliert.

"Ach, Inge," schreibt er nach Stockholm, "warum muß der Mensch, wenn er geboren ist, gleich in eine bestimmte Rubrik eingeordnet werden? Auch die Rassenfrage und all das, worüber ich so gelacht habe. Es ist doch auch so ernst, weil das Schicksal es so ernst gemacht hat. Und wie soll da unsere Zukunft sein? Außerhalb des Judentums sehe ich keine Möglichkeiten mehr für mich. Und dann wiederum ist es doch nie möglich, daß wir beide zusammenkommen können. Da gibt es doch die gleichen Rassenanschauungen wie woanders. Das waren dinge, über die ich so wenig nachgedacht habe und die in der letzten zeit mich auf einmal so bedrängen. Inge, ich sehe die Tränen kommen, wenn Du das alles liest. Auch mir geht es ja so. Und doch können wir die Augen nicht zumachen. Das Leben ist doch so hart. Nur wenn das Glück uns zeitweilig zusammenkommen läßt, dann dürfen wir für kurze Zeit alles andere vergessen, zwei Menschen sein und weiter nicht anderes."

Kaufmann arbeitet inzwischen als Sportlehrer in einem jüdischen Internat in Coburg. Das Leben für Deutsche jüdischer Abstammung ist schon massiv eingeschränkt. Kino- und Theaterbesuch verboten, das Sitzen auf öffentlichen Bänken in den Parks verboten usw. usf.

Im Internat ist viel zu tun. Jeden Monat müssen Berichte über die Schüler getippt und an die Eltern geschickt werden. Das Purim-Fest, Anfang März, wird mit Theater gefeiert. Inge in Stockholm weiß nichts von Purim, und so wie Kaufmann es ihr erklärt, scheint auch er sich erst vor kurzem kundig gemacht zu haben.

Im Sommer 1936 beschließen beide gemeinsame Ferien in Schweden zu machen. Unklar ist wie er seinen Aufenthalt in Schweden bestreiten wird. An Geld fehlt es nicht, aber es läßt sich nach deutschem Gesetz nur in Portionen zu 10,- Reichsmark, monatlich, über die Grenze schaffen. Zum Reisen reicht das nicht.

"Seine Schwester Trude in Kopenhagen hat ihm den Tip gegeben, man könne bei einer Reise nach Dänemark auf Antrag 140 Reichsmark mitnehmen. Also versucht Kaufmann, einen Kreditbrief für Dänemark zu bekommen. Aber die Sache hat einen Hacken. In seinem paß ist als ständiger Wohnsitz noch immer Bologna angegeben - deshalb gilt er als Auslandsdeutscher und kann als solcher keinen Kreditbrief bekommen. Möglich wäre es zwar, den Paß ändern und als neuen Wohnsitz Coburg eintragen zu lassen. Aber da man dort allen Juden die Pässe abgenommen hat, fürchtet er, bei dieser Gelegenheit auch seinen zu verlieren und mit dem Paß die Aussicht auf einen Sommer in Schweden." Es gibt keine andere Wahl, Ingeborg wird das Geld vorlegen müssen.

Der Tag der Abreise naht, es soll der 2. August 1936 sein. Sie wollen sich in Göteborg treffen, aber Rudolf Kaufmann kommt nicht an. Ingeborg wartet vergeblich und schreibt einen besorgten Brief an Kaufmanns Schwester in Kopenhagen. Beide, weder Ingeborg noch Kaufmanns Schwester wissen, was in Coburg bereits die Zeitungsleser wissen. Das Naziblatt "Bayrische Ostmark - Coburger Nationalzeitung" titelt am 1. August 1936: "Wegen Rassenschande festgenommen - Ein charakteristischer Fall jüdischer Unverfrorenheit in Coburg."

"Ich sehe Deine entsetzliche Angst," schreibt er in einem rührenden Brief aus der Untersuchungshaft, "und den Kummer vor mir, den Du schon in diesen zwei Wochen ausgestanden hast, weil keine Nachricht ankam und ich doch von Euch längst als Gast in St. erwartet wurde. Ich war Dir vor zweieinhalb Monaten in Unbesonnenheit einmal treulos gewesen (...) Ich wage Dich gar nicht um Verzeihung zu bitten, ich hatte Dir ja alles in Schweden beichten wollen. Aber jetzt ist es zu spät dazu. Ich bin deiner nicht mehr wert und bitte Dich, mich zu vergessen zu suchen. Ich danke dir für die treue, reine Liebe, die Du mir entgegenbrachtest. (...)."

In der Zeit nach Kaufmanns Verhaftung baut Inge Magnusson die Verbindung zu seiner Familie aus, wechselt vermehrt Briefe mit dem Bruder Hans und dessen Frau Vera, die im Laufe des Herbstes nach England auswandern, und besucht in Kopenhagen Kaufmanns Schwester Trude und ihren Mann. Vielleicht ahnt sie schon, daß sie bald auf diese nächsten Angehörigen angewiesen sein wird, wenn die Verbindung zu Rudolf Kaufmann nicht abreißen soll. Zunächst jedoch gehen die Briefe zwischen Stockholm und Coburg, wenn auch unter den Augen des Gefängniszensors, weiter ungehindert hin und her.

Am 10. Dezember 1936 wird Kaufmann von der Großen Strafkammer am Landgericht Coburg des Verbrechens der Rassenschande für schuldig befunden und zu einer Zuchthausstrafe von drei Jahren sowie der Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte für fünf Jahre verurteilt. Pünktlich am 12. Oktober 1939 wird er freigelassen. Inzwischen kommen Juden, die nicht sofort auswandern, nach Verbüßung einer Haftstrafe nicht mehr frei, sondern ins Lager - und Kaufmann kann nicht auswandern. Der Krieg hat ihm den Weg versperrt. Durch glückliche Umstände, er hatte während seiner Haft die Auswanderung nach Australien beantragt, das Permit (Erlaubnis) war ihm im Frühjahr erteilt worden und die Coburger Polizei hatte seinen Paß zur Beschleunigung der Ausreise nach der Entlassung an das Zuchthaus Amberg geschickt und niemand achtete darauf, daß sich inzwischen die Voraussetzungen für Auslandsreisen auch von Juden inzwischen gründlich geändert hatten. Kaufmann bekommt seinen Paß, sogar ohne die Auflage sich regelmäßig bei der Polizei zu melden. Er kann in Deutschland gehen wohin er will.

Es folgen die Stationen Köln, Düsseldorf. Mitte November kehrt Kaufmann über Berlin nach Königsberg zurück. Zur Ruhe kommt er dort nicht. Der Deutsche Rudolf Kaufmann, gebürtig aus Königsberg, ist in Königsberg unerwünscht. Sie vertreiben ihn. "Man hat mir angedeutet," schreibt er, "daß ich bei Nichtauswanderung wieder in die alte Arbeitsstätte oder ähnliches zurück müsse." Auch Inge wird sich gefragt haben, was er damit meint. Zuchthaus? Lager? Ghetto? Die Passage nach Chile könnte ihm der Orient-Palestine-Lloyd, Berlin, besorgen. Zweihundert Dollar sind erforderlich, die Kaufmann nicht hat, die Inge in Stockholm nicht hat, die sein Bruder Hans ihm wegen kriegsbedingter Devisensperre aus London nicht schicken kann.

Er flieht nach Kaunas in Litauen und kommt bei einer Familie deutsch-jüdischen Ursprungs unter, die eine Buchhandlung für französische, deutsche und englische Literatur führt. Miete kann er nicht zahlen, dafür hilft er im Geschäft aus und wenn die Familie Holzmann zu Bett gegangen ist, schläft er auf dem Sofa im Wohnzimmer.

Nicht nur seine Kleider, auch die Fotos von Inge und wahrscheinlich ihre Briefe mußte Kaufmann in Königsberg zurücklassen, als er nach Kaunas floh. Seit vier Jahren haben sie sich leibhaftig nicht mehr gesehen. Er bittet Inge um ein neues Bild von ihr. 1940 besetzen deutsche Truppen Dänemark und Norwegen. Im Mai überrennen sie Holland, Luxemburg und Belgien. Zum wiederholten Male drängt Kaufmann Ingeborg Magnusson zu ihm zu kommen, wenigstens auf einen Besuch, besser noch um zu bleiben. Er versteht ihr Zaudern angesichts der Weltlage, da doch jedes Land, auch Litauen und Schweden von einem auf den anderen Tag in den Krieg hineingezogen werden können. Und er versteht es auch wiederum nicht, denn wenn überall Gefahr ist - dann kann Inge ebensogut an seiner Seite auf friedlichere Zeiten warten. Dem dramatischen Appell, das gemeinsame Leben im letzten noch möglich erscheinendem Augenblick zu beginnen, folgt kurze Zeit darauf der Sturz in die Hoffnungslosigkeit: "Es ist mir heute so traurig um das Herz. Und es fehlt mir so sehr der Mut für unsere weitere Zukunft."

Vier Jahre hindurch hat sich die Hoffnung auf ein gemeinsames Leben allein durch Briefe gehalten. Im Juli 1940 zerbröckelt sie. Die alte Kraft zum Optimismus, über die Kaufmann in so reichem, manchmal fast unbegreiflich hohen Maße verfügt, geht ihm aus.

Inzwischen ist die Rote Armee in Litauen einmarschiert. Einen Monat nach Ausrufung der Litauischen Sozialistischen Sowjetrepublik wird er mit regelmäßigem Gehalt als qualifizierter Arbeiter für geologische Aufgaben fest angestellt.

Die Briefe von Litauen nach Schweden werden seltener. In Kaufmanns Leben tritt eine Emigrantin aus Tilsit in seinem Alter, Ilse. Am 23. April 1941 geht der letzte Brief nach Schweden. Zwei Monate später, am 22. Juni, beginnt der deutsche Überfall auf die Sowjetunion. Der Angriff der Heeresgruppe Nord zielt aus der Umgebung Königsberg und Memel durch Litauen und die anderen baltischen Länder auf Leningrad. Einsatzgruppen der SS und der Sicherheitspolizei beginnen mit der Ausrottung von Juden, Zigeunern und politischen Kommissaren. Listen mit Namen der Opfer gibt es nicht. Nur Zahlen gibt es. Die Mörder selbst haben sie berechnet, verzeichnet, weitergeleitet. Zahlen waren ihnen wichtig, Namen nicht. Die Zahl für Litauen ist 136 421.

Peter Asmussen

KÖNIGSKINDER - Eine wahre Liebe Gefunden von Reinhard Kaiser © Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung GmbH Frankfurt am Main 1996 Dritte Auflage 1977 ISBN 3-89561-061-5

© Birgit Pauli-Haack 1997