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Special: Steven Spielberg

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Argentinien: Was vom Leben einer Heldin bleibt

Schindlers Witwe

Jahrzehnte war sie ganz vergessen, nun profitiert sie als 91jährige nur ein bißchen vom Nachruhm ihres Mannes, mit dem sie 1200 Juden rettete

Von Peter Burghardt

Buenos Aires, im Mai – „Wunderbares Wetter heute“, ruft Emilie Schindler und lächelt, ein spöttisches Lächeln, das feine Falten durch ihr Gesicht schickt. Es regnet in Strömen, dunkle Wolken vergießen den warmen Regen, der Buenos Aires zuweilen unter Wasser setzt. Die Tropfen bilden dicke Flecken auf ihrem beigen Kleid, und nun muß sie den kurzen Weg zum Gartentor ein zweites Mal zurücklegen, weil sie den Schlüssel vergessen hat. „Ich hab’ mir den Fuß gebrochen, ich kann nicht laufen“, murmelt die alte Frau, als sie in ihren Pantoffeln wieder zurück zum Haus schlurft, ihr Fliegengewicht auf den Holzstock gestützt. Dann öffnet sie mühsam das Schloß und fragt mit einem Akzent, der irgendwo zwischen böhmischem Deutsch und argentinischem Spanisch liegt: „Haben Sie mich gleich gefunden?“

Natürlich, das war nicht schwer, obwohl ihr Haus grau und flach ist und keineswegs auffällt in San Vicente, 60 Kilometer südlich der argentinischen Hauptstadt. Als sie mit Oskar, ihrem Mann, vor einem halben Jahrhundert nach Südamerika kam, kannte hier draußen kein Mensch die Geschichte von der Liste, mit deren Hilfe ein deutsches Ehepaar in einer polnischen Rüstungsfabrik 1200 Juden vor Auschwitz bewahrt hat. Der Weg in die Pampa war damals die holprige Schlußetappe einer weiten Reise, weg von Deutschland, weg von den Ruinen des Krieges – und weg von einem Leben, das viele Jahre später die Kinos der Welt füllen und dem Regisseur Steven Spielberg einen Oscar bescheren sollte. Jetzt führt eine Schnellstraße vorbei am internationalen Flughafen Ezeiza zu den Kuhweiden der Provinz, und seit Spielbergs Film weiß in San Vicente fast jeder, wer die Witwe Schindler ist und wo sie wohnt. Gleich da drüben, sagen zwei Männer an der Tankstelle gegenüber der Plaza San Martin: drittes Haus rechts, Nummer 353.

„Er soll gehen zum Teufel“

Sie hätten auch sagen können: dort, wo die Katzen sind. Eine getigerte, eine braune und eine weiße drücken sich vor dem Regen an die Hauswand, zwischen Schüsseln verwässerter Milch und Töpfen mit verklebtem Futter. Drinnen versammeln sich mindestens 15 weitere, und entsprechend streng riecht die stickige Luft hinter den heruntergelassenen Rollos. Die Tiere springen auf die Stühle und Tische, sie liegen auf den zerschlissenen Sesseln, dem verschrammten Fernseher und dem verbeulten Koffer. Hinter der Tür zum Innenhof knurren zwei Hunde – „deutsche Polizeihunde, schöne Hunde“, sagt Emilie Schindler, „das sind Teufel, die lassen niemanden durch.“ Das Futter stapelt sich in Vorratspackungen, 8-Kilo-Säcke für die Katzen, 15-Kilo-Säcke für die Hunde. Die Tiere sind ihr zugelaufen. „Weil sie Hunger haben, gehen sie dahin, wo sie was kriegen“, sagt sie. Also zu ihr.

Sie spricht mit den Haustieren, sie steht früh für sie auf. Sie geben ihr das Gefühl, beschäftigt zu sein. Als Oskar noch in San Vicente war, fütterte sie Hühner und Biberratten – ihr Mann dachte, mit deren Fell ließe sich in Argentinien das große Geld verdienen. Nachdem er sie 1957 verlassen hatte und nach Deutschland zurückgefahren war (wo er 1974 starb), fütterte und molk sie Kühe. „Sechzig Kühe hab’ ich großgezogen“, sagt sie; das Vieh weidete damals vor der Quinta von General Perón, die heute der Gouverneur bewohnt. „Mein Lieber, was ich hier gearbeitet hab’, Jesus, Maria und Josef“, sagt sie. „Der Schindler hat nichts gemacht. Acht Jahre war er hier, dann ist er weg.“

Der Schindler. Sie sagt nicht: „Mein Mann“, oder „Oskar“. Sie sagt: „Der Schindler.“ Sie redet sich in Rage, wiederholt sich, bringt manches durcheinander. „Der Schindler war nicht ein so großer Mann“, sagt sie und klopft auf die Tischplatte, die ein Wachstuch überzieht, „der hat überhaupt nichts gemacht, aus dem Staub gemacht hat er sich.“ Und die guten Erinnerungen? „Überhaupt keine, wieso sollte ich’s sagen? Ich bin offen und ehrlich – er soll gehen zum Teufel.“ In ihrem Haus hängt kein einziges Photo von Oskar, dem Helden, dem Lebemann, dem Luftikus mit seinen Launen, seinen Frauen, seinem Alkohol, seinen Schulden.

Wahrscheinlich meint sie nicht alles so, wie sie es sagt. Es ist auch das Alter, die Enttäuschung, die Einsamkeit. Die Erinnerung ist porös wie ein alter Film, sie spult ihn vor und zurück, und oft verschwimmen die Bilder. Es kann passieren, daß sie von ihrem Mann spricht, und plötzlich merkt man, daß sie bei einem ganz anderen gelandet ist. „Was ich mich geärgert hab’ mit dem Miststück, dem Nichtsnutz von Hitler.“ Ein halbes Jahrhundert lebt sie in Argentinien, mehr als 40 Jahre davon allein. Vieles ist durcheinandergeraten, auch die Sprache. „Wissen Sie, wie alt ich bin?“ fragt sie. „Noventa y un año.“ Einundneunzig.

Das Wiedersehen mit dem Gatten war öffentlich, Millionen Kinobesucher haben dabei zugesehen. Ganz am Ende in Spielbergs Film, als die Bilder farbig wurden, pilgerten Überlebende der Schindler-Liste sowie deren Darsteller zu Oskars Ehrengrab in Jerusalem; Spielberg hatte sie alle eingeladen, und auch die Witwe kam, wie jemand, der einen Menschen sucht, der ihn abstößt und anzieht zugleich. Die junge Schauspielerin Caroline Goodall schob eine alte Frau, „Emilie Schindler“ stand unten auf der Leinwand, und so erfuhr die Welt, daß sie noch lebt. Die Witwe saß damals im Rollstuhl, die Aufregung war zuviel für sie, und den Stein, den sie wie alle auf die weiße Grabplatte legen sollte, drückte sie Mrs. Goodall in die Hand. 1993 wurde die Szene gedreht, es war nach 36 Jahren die erste Begegnung mit ihrem Mann, und wohl auch die letzte; sie hat ihn nun bereits ein Vierteljahrhundert überlebt. Mit einem unsicheren Lächeln im Gesicht verschwand sie von der Leinwand. „Ich redete in Gedanken mit ihm“, steht in ihren 1996 erschienenen Memoiren, die auf deutsch den Titel In Schindlers Schatten tragen. „Das Grab ist häßlich“, sagt sie heute.

Der Film riß sie aus der Anonymität, nicht das ihm zugrundeliegende Buch von Thomas Keneally, das Jahre zuvor erschienen war. Sieben Staatspräsidenten hat sie seither kennengelernt. Bei der Premiere in Washington traf sie das Ehepaar Clinton, vom Film selbst hatte sie bei der Vorstellung nicht viel mitbekommen, weil die Leute vor ihr zwei Köpfe größer waren. Argentiniens Präsident Carlos Menem fällt ihr bei Gelegenheit gerne um den Hals, und kürzlich war sie wieder in Fernsehen und Zeitungen zu besichtigen, weil Bundespräsident Roman Herzog auf Staatsbesuch in Buenos Aires war; er hatte sie aber schon vor einigen Jahren nach Bonn gebeten. Der Papst empfing sie im Vatikan, woran sie sich erst bei der zweiten Nachfrage erinnert: „Er hat mir gesagt, daß die Polen mich sehr gerne haben. Er ist ja Pole.“ Sie bekam allerlei Auszeichnungen, aber dankbar ist sie ihren Entdeckern Keneally und Spielberg nicht, und wenn man sie heute fragt, ob sie den Film gut fand, dann winkt sie ab: „No. Es fehlt viel.“

Sie bekommt Ehrensold

Sie mag ihn schon deshalb nicht besonders, weil sie glaubt, vom Gewinn zu wenig abbekommen zu haben. Zwar hat die jüdische Stiftung B’nai B’rith ihr das Haus, in dem sie wohnt, zur Verfügung gestellt, die argentinische Regierung überweist 1800 Mark Rente, das deutsche Bundespräsidialamt zahlt einen „Ehrensold“ für besonders verdienstvolle und bedürftige Bürger, und Spielberg hat ihr angeblich 50  000 Dollar geschickt. Alles Folgen der plötzlichen Aufmerksamkeit. Doch von der Wand blättert die Farbe, und zu den wenigen sichtbaren Schmuckstücken zählen eine silberne Wanduhr, ein Ölbild mit Reiter und ein Kronleuchter. Sie sagt: „Sechs Prozent soll er bezahlen. Die wollen nicht, aber ich werde darauf drängen. Ich mußte unterschreiben, damit die den Film machen konnten. Wissen Sie, wieviel die verdient haben? Millionen.“ Sie lacht. „ Ich bin nicht so blöd, wie die Leute denken.“

Ihrer Ansicht nach fehlt auch wirklich viel in dem preisgekrönten Werk. Vor allem ihr Beitrag. Im Prolog ihrer Memoiren, die eine Lehrerin vom Goethe-Institut für sie aufgeschrieben hat, steht der Satz: „Auf Oskar fiel nur das Licht, das die Geschichte für ihn vorgesehen hatte, und das finde ich nicht ganz gerecht.“ Und wenn man sie jetzt danach fragt, dann besteht sie darauf: „Das Essen hab’ ich besorgt, nicht der Schindler.“ Sie meint die Verpflegung für die jüdischen Zwangsarbeiter der Waffenfabrik von Brünnlitz, die ihr Mann einst mit List übernommen hatte.

Spielbergs Film brauchte einen Helden, Oskar eben, da lag er auch nicht falsch. Er hielt sich relativ streng an die Fakten, die Personen sind historisch, Kommandant Amon Göth muß tatsächlich furchtbar gewesen sein, „der war doch verrückt“, sagt Emilie Schindler. Oskar Schindler hatte für die deutsche Abwehr in Mährisch-Ostrau gearbeitet, er übernahm dank guter Kontakte zu NS-Chargen eine Emaille-Fabrik mit Arbeitern aus dem Lager Plaschow, und nach dessen Schließung die Waffenschmiede von Brünnlitz, wohin er durch Beziehungen und Bestechung 1200 Juden mitnehmen durfte; viel mehr, als er eigentlich gebraucht hätte. Der unpolitische Fabrikant wollte Leben retten; auch Emilie billigt ihm das zu, jedenfalls in ihrem Buch. Er war der Initiator, der Macher. Ihre Rolle aber wurde unterschätzt.

Momentaufnahmen, abrufbar wie aus dem Archiv, nur ein bißchen verwackelt. Die adelige Mühlenbesitzerin, der sie beim Tee aus blaugoldenem Meißner Porzellan Getreide und Grieß abtrotzte. Die kleine Polin, die vom Hund eines SS-Mannes angefallen wurde, der lachte. Emilie Schindler ging dazwischen. Die ausgemergelten 250 Juden, die in vier Eisenbahn-Waggons auf dem Fabrikgelände ankamen und die sie pflegen ließ. Sie sagt: „Sechs Millionen haben sie umgebracht, dann sind sie davongelaufen.“ Die Nazis. Warum hat sie getan, was andere nicht konnten, nicht wollten? „Ich hab’ nicht nur Juden geholfen, auch Polen, Deutschen. Ich hab’ allen Menschen geholfen. Ich wollte nicht, ich mußte. Was sollten sie denn essen?“

Besuch bei Nummer 69218

„Sie ist ein starker Charakter, sehr gerade, sehr standhaft. Sie hatte viel Mut.“ Francisco Wichter blickt aus wachen, wehmütigen Augen in seiner hellen, aufgeräumten Wohnung im vierten Stock in der Straße JR de Velazco von Buenos Aires. Auf seinem rechten Unterarm sind die Buchstaben KL eingebrannt, Konzentrationslager. Er stand auf Schindlers Liste. Nummer 69218: Wichter, Feiwolf, 25.7.26, angestellter Metallverarbeiter, nachzulesen auf dem kopierten Auszug in seinem Buch Das elfte Gebot, für das Emilie Schindler ihm das Nachwort diktierte. Er traf sie wieder, nachdem er sie 1993 zur Premiere des Films zufällig im argentinischen Fernsehen entdeckt hatte. Davor hatte er sie zuletzt am 8.  Mai 1945 in Brünnlitz gesehen, als Churchill im Radio den Sieg der Alliierten verkündete und Oskar Schindler die schweigenden Arbeiter mit einer Rede verabschiedete, Emilie an seiner Seite. „Wer“, sagt Francisco Wichter, „konnte sich an diesem 8.  Mai vorstellen, daß wir uns in Buenos Aires wiedersehen würden?“

Der Film und das Wiedersehen haben ihm die Worte zurückgegeben, nachdem er fast vierzig Jahre zum Holocaust geschwiegen hatte. Seine Erinnerungen sind detaillierter, differenzierter als die der alten Frau, aber er versteht sie. Oskar, sagt Francisco Wichter, „war groß, blond, gutaussehend, ein Don Juan, ein Bonvivant. Sie war eine einfache Frau, ohne Familie, auf dem Land aufgewachsen. Er war ihre einzige Liebe.“ Auch er hat Fehler entdeckt bei Spielberg, Ungenauigkeiten, erfundene Details wie den goldenen Ring, den die Häftlinge ihm im Film zum Abschied gossen. Für die Verpflegung, sagt er, habe sie in der Tat gesorgt, „aber man darf ihm die Verdienste nicht wegnehmen“. Sieht er in ihr seine Retterin? „Schauen Sie“, sagt Wichter beim Abschied, „es gab keinen Vertrag, in dem geschrieben stand: ,Ich werde überleben.‘ Es war auch Schicksal. Ich glaube viel an Schicksal.“

Francisco Wichter, der ehemalige Häftling Nummer 69218, ist einer ihrer wenigen Freunde. „Emily“ nennt er sie, er hat ihr den Kronleuchter geschenkt und Geld, und er besucht sie regelmäßig. Halbtags hat Emilie Schindler auch einen Betreuer, den sie bezahlt. Sie braucht ja Hilfe, obwohl sie keine will. Oft fällt sie hin, und die Knochen sind brüchig. Erst die Hüfte, dann das Bein, dazu das Magengeschwür. Außerdem gibt es Leute, die ihr weniger wohlgesonnen sind. Nachdem ehemalige Polizisten vor einem Jahr jüdische Friedhöfe in der Gegend schändeten, bekam sie als potentielles Opfer Polizeischutz. In Argentinien gibt es alte Nazis und neue, und das Ende der Militärdiktatur liegt auch erst 16 Jahre zurück. „Nazi“, sagt sie nicht. „Mistluder“, sagt sie.

Draußen hat der Regen die Luft gewaschen. Die Katzen haben vom nassen Futter nichts mehr angerührt. Emilie Schindler wird bald nach ihnen sehen müssen.

© 1999Birgit Pauli-Haack 1997