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Special: Steven Spielberg

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Ein Jude in Berlin
Die Shoah-Stiftung von Steven Spielberg hat bisher 50 000 Holocaust-Überlebende nach ihren Geschichten befragt. Nun will der Hollywood-Regisseur sein Archiv in die deutsche Hauptstadt bringen, in die es ihn immer öfter zieht. Drei Tage mit Spielberg unterwegs in Berlin

Von Wolfgang Büscher

Es war einmal ein kleiner Junge in Amerika. Seines Vaters Beruf brachte immer neue Umzüge mit sich, und so mußte er, kaum daß er neue Freunde gewonnen hatte, diese schon wieder zurücklassen. In Sport ist er der schwächste, beim Laufen geht er regelmäßig als letzter durchs Ziel. Aber das langweiligste Fach ist ihm Geschichte. Bilderlose Bücher, tote Namen, Jahreszahlen. Ihn ziehen die Bilder an. Früh beginnt er zu filmen.

Die anderen Kinder sind dem Jungen mit den wasserblauen Augen nicht grün. Er sei Jude, heißt es, der einzige in der Klasse, in der Schule, in Arizona, Kalifornien, der ganzen Welt. Sie hänseln und verprügeln ihn, besonders der große Bullige. Die Mutter muß ihn täglich zur Schule bringen und abholen, dabei ist der Schulweg nur fünf Minuten lang. Dann kommt der Klassenausflug ans Meer. Alle packen ihre Badesachen aus ­ Steven seine Filmkamera. Er filmt die anderen, wie sie am Strand herumtollen und schneidet einen kleinen Film daraus, in dem er den Bulligen besonders gut wegkommen läßt. Es wird sein erster Erfolgsfilm: Der Bullige bedankte sich bei ihm und läßt ihn fortan in Ruhe.

Als Vater sich scheiden läßt und fortgeht, wünscht Steven sich einen Ersatz. Keinen neuen Vater, nein, etwas Verläßliches, einen Freund. Keinen von dieser schwierigen Welt, eher einen von jener. Viele Jahre später hat Steven Spielberg sich ihn erschaffen ­ die Kinderseele im runzligen Körper eines Uralten: E.T.

Inzwischen hat er selbst Kinder, und sein Haar ist grau, aber die Erfolgsmethode aus der Highschool hat er sich gemerkt. Er hat ihn nie wieder aus der Hand gegeben, den leise surrenden Apparat, der Macht hat über Menschen. Über ihre Gefühle, ihr Bild von sich selbst und der Welt. Der bullige Schlägertypen in strahlende, handzahme junge Helden verwandelt, der den Haß und das Häßliche durch Bilder bannt. Wer die Bilder beherrschen will, muß ihnen etwas geben, wie der Dompteur seinen Tigern, damit sie für ihn durch den Feuerreif springen. Spielberg beherrscht die Bilder, weil er nicht versucht, sie in den Käfig artfremder Absichten zu sperren.

Er ist der alte Junge. Die in Bildern eher träumende als denkende Kinderseele im Körper des erwachsenen Mannes. Der reine Kino-Tor. Einer also, den die Intellektuellen, gelinde gesagt, nicht mögen. Gefragt, ob an dem Gerücht etwas sei, er wolle Leni Riefenstahl treffen, sagt er: „Jetzt nicht. Aber eines Tages würde ich sie sehr gern sehen." Eine verrückte Vorstellung: Peter Pan trifft die alte Bilderhexe. Weiße Propaganda meets schwarze Magie. Was für ein Spielberg-Stoff. Anders gefragt: Was wäre aus der Riefenstahl, was aus Eisenstein in Hollywood geworden?

Wer nur die politische Polarität sieht, verkennt ästhetische Nähen. Und wer in Spielberg nur den naiven Märchenonkel sieht, übersieht die Nähe von Märchen und Mythos. Das eine ist der kleine Bruder des anderen. Sehr politische Menschen sehen in Spielberg den amerikanischen Juden, der auf der Suche nach europäischen Wurzeln seine Liebe zu Deutschland entdeckt. Der das Bundesverdienstkreuz nimmt und den listenreichen, stets auf Persilscheine sinnenden Deutschen einen Weg öffnet, der vom Gedenken an die Opfer zur Feier der Überlebenden führt ­ vom Mahnmal zu Multimedia.

Mit den Motiven des nicht sehr großen, eher schmächtigen Regisseurs, den in diesem Augenblick Scheinwerfer aus dem Dunkel der leeren Bühne holen, hat das alles wenig zu tun. Gestern hat er auf dieser Bühne seine Goldene Kamera abgeholt, heute stellt er hier, im Großen Saal des Schauspielhauses am Gendarmenmarkt, seine Shoah-Stiftung vor, immer die auffällig-unauffällige Anzugversion des Bundesverdienstkreuzes am Revers. Er hat wieder ein bißchen gezaubert. Er hat es, wie Thomas Middelhoff, Vorstandsvorsitzender vom Bertelsmann, amüsiert feststellt, fertiggebracht, die drei großen deutschen Medienkonkurrenten Bertelsmann, Burda und Springer an einen Tisch zu bekommen.

Der Zauberstab hört auf den etwas umständlichen Namen „Survivors of the Shoah Visual History GmbH ­ Partners in Tolerance". Die visuelle Geschichte des Judenmordes also. Ein Videoarchiv der Erinnerungen Überlebender, die Spielbergs Stiftung in den letzten Jahren weltweit gesammelt hat. Sie bringt er als imaginäres Kapital ein, und die deutschen Partner, obenan die drei Großverlage, sind auf einer immer länger werdenden Liste als wirkliche Kapitalgeber verzeichnet. Während in Deutschland die erinnerungspolitische Mahnmal-Museums-Mühsal köchelt und plätschert, bewegt sich vom anderen Ufer des Atlantik her ein gewaltiger Bilderberg auf Berlin zu, gesteuert von Käpt'n Spielberg. Der Berg ist 117 251 Stunden hoch ­ oder dreizehn Jahre, drei Monate und zehn Tage. So lange dauerte es, wollte jemand Spielbergs Interview-Dokumentation vom Anfang bis Ende anschauen.

Er wolle, sagt er, Berlin zum Zentrum dieser ungeheuren Video-Dokumentation machen. Die Idee kam ihm bei den Dreharbeiten zu „Schindlers Liste" in Krakau. Eine KZ-Überlebende wandte sich an ihn: Ihrer Familie habe sie ihre Erinnerungen nicht zumuten wollen, aber ihm als neutrale Person werde sie alles erzählen. Und Spielberg wäre nicht Spielberg, hätte das Angebot nicht einen Riesentraum ausgelöst: Wir interviewen nicht nur diese Frau. Wir interviewen alle, die noch leben, rund um die Erde. Wir setzen uns ein großes, rundes, spektakuläres Ziel: 50 000 Überlebende der Judenvernichtung. 50 000 Videozeugnisse. Vor eineinhalb Monaten hat eines seiner Teams den Fünfzigtausendsten befragt. 68 000 weitere Überlebende haben abgelehnt. 50 zu 68 ­ eins zu eins plus.

Viel spricht dafür, daß dies die Weltformel ist, nach der die Balance von Erinnern und Vergessen funktioniert, immer und überall. Wer mit Spielbergs Interviewern sprach, redete sich den Alptraum, den er seinen Kindern fünfzig Jahre lang verschwiegen hatte, in einer Explosion des Erinnerns von der Seele, stunden-, mitunter tagelang. Die schwiegen, wollten daran nicht mehr rühren und es mitnehmen ins Grab.

Steven, der Träumer hat einen Freund dabei, der auf ihn aufpaßt ­ Spielberg, der Geschäftsmann und Diplomat. Und der erklärt bei jeder Gelegenheit staatsmännisch, natürlich sei es allein Sache der Deutschen, ob und wie sie ihr Mahnmal bauten. Er halte sich da zurück und warte ruhig ab, wo der Hafen entstehe, in den sein Bilderberg eines Tages einlaufen werde. Aber daß es Berlin ist, ist für ihn keine Frage. „Wir sind heute hier, um unser Material zu zeigen, um zuzuhören. Aber wir sind hier, um zu bleiben." Und der Mann auf der leeren Bühne wird von Minute zu Minute lockerer, sprudelnder, hiesiger.

Spielberg ist immer öfter in Berlin, immer länger. Etwas zieht ihn her. Etwas, das ihm selbst nicht ganz klar ist. Ein europäischer Magnetismus ist am Werk, und die Nadel zittert über Berlin. Nicht nur er spürt ihn. Als die große Versiegelung Berlins, Deutschlands, Mitteleuropas aufbrach, 1989, wurden in New York und einigen anderen überseeischen Flecken einige ältere Herrschaften unruhig, und mancher kurierte die Unruhe mit seinem Umzug nach Berlin, der eine sehr späte Rückkehr an den Ort der Kindheit war.

Man kann sie heute wieder in Berlin treffen, als ältere Musiker, emeritierte Historiker, Wissenschaftler aus Boston mit Zweitwohnsitz in Wilmersdorf. Manche von ihnen hatten als jüdische Deutsche, halbe Kinder noch, Deutschland verlassen müssen und ihr Leben in Amerika gelebt, und doch war da etwas. Als Helmut Kohl nach dem Fall der Mauer in Washington noch einmal mit allen Ehren empfangen wurde, als sei es das erste Mal, standen diese alten deutschen Juden feuchten Auges hinter der Absperrung. Dies ist nicht Spielbergs Geschichte. Bei ihm wirkt der Berlin-Magnetismus metaphysischer. Er hat hier keine Vorfahren. Seine Familie stammt aus Rußland und Östereich, und schon seine Eltern wurden in den USA geboren.

Ein halbes Leben lang hielt die Abneigung des Schülers Steven gegen Geschichtsstunden. Der Mann Spielberg machte Filme über weiße Haie und märchenhafte Abenteurer, phantasierte zukünftige und urtümliche Welten. Das war Hollywood, das war Amerika. Aber irgendwann, so um die Mitte vierzig, wird auch der größte Junge erwachsen, vulgo: wird Vater und kann sich nicht mehr vormachen, er renne an der Spitze des Feldes und nach ihm komme nichts mehr. Er hält inne, hört auf, stur nach vorn zu blicken und dreht sich um. „Allein schon, um nicht wie ein Idiot dazustehen, wenn meine Kinder mich fragen, woher wir kommen."

Spielberg wußte natürlich, daß er Jude war, dafür hatte sein orthodoxer Großvater aus Cincinnati gesorgt, wenn er zu Besuch kam. Aber es hatte nicht viel bedeutet. Er wäre nie auf die Idee gekommen, einen historischen Stoff zu verfilmen. Nur Erwachsene haben eine Geschichte. Kinder haben Geschichten.

Schindlers Liste war beides, die Geschichte des NS-Mannes und Unternehmers, der 1200 Juden rettete. „Es war der Wendepunkt in meinem Leben. Es bekam einen Sinn." Als er sich aber von „fiction", von dem Stoff, aus dem Hollywood ist, ab- und der Geschichte zuwandte, dem Stoff, aus dem dieses Jahrhundert ist, ging er nach Europa. „In den ganzen Zeit, als ich 'Schindlers Liste' drehte, habe ich einen weiten Bogen um Hollywood gemacht." Nach Deutschland zu gehen, er sagt es immer wieder, habe ihm zuerst Angst gemacht. Er ging mit „Schindlers Liste" in eine Berliner Schule und machte eine Erfahrung, die schon andere Juden irritiert hat. „Schüler, 35 Jahre nach dem Krieg geboren, leben in einem Bewußtsein von Schuld und Scham und würden am liebsten ihr Deutschsein verleugnen."

Es ist, als müsse erst jemand von außen kommen, der alte Junge aus Amerika, um nebenbei auch den deutschen Krampf zu lösen. Er legt eine erstaunliche Trittsicherheit an den Tag. Er interessiert sich sehr für die deutschen Dinge, aber er läßt sich nicht in die selbstquälerische deutsche Art, in den Selbsthaß hineinziehen. Das merken die Leute. Sie wenden sich an ihn und stellen ihm Fragen, die man früher dem Geistlichen oder dem Hausarzt gestellt hätte. Der Schauspieler Ben Kingsley, der fragile Adler, hat es in seiner Laudatio für Spielbergs Goldene Kamera so gesagt: „Vor tausenden Jahren saßen wir, wenn es Nacht wurde, um das Feuer und hörten dem Schamanen zu, dem Erzähler und Heiler, und der Widerschein der Flammen huschte über unsere Gesichter. Und heute sitzen wir im Kino, und der Widerschein der Bilder flimmert über unser Gesicht. Vielleicht können sie, wo die Sprache versagt, sprechen."

Gala-Propaganda? Auch Spielberg spricht vom Heilen. Im Hinausgehen, in der Tür, sagt Spielberg auf die Frage, wie er das meine: „Die Überlebenden werden nie geheilt sein. Bevor sie es sein könnten, sind sie tot. Aber auch Deutschland ist nicht geheilt." Und wieder kommt er auf die jungen Deutschen zu sprechen, „die in einem Gefühl von Schuld und Scham leben". Als erinnere es ihn an etwas.

© DIE WELT, 13.2.1999

© 1999Birgit Pauli-Haack 1997