Shoah Project Vernichtungskrieg.
Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944
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Die Kollegin Nickels, bitte.

Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Kurzintervention schließt sich richtig an Ihre Kurzintervention, Frau Kollegin, an. Ich möchte sagen, daß mein Vater nicht jung war, als er in den Krieg ging. Er wurde 1908 geboren und ist 1991 gestorben. Er war nicht Parteimitglied. Er wurde zurückgestellt, weil er Bauer war. Später wurde er eingezogen. Meine Mutter hat mir erzählt, daß mein Vater in den 50er Jahren -- er war ein gestandener Mann, der sein ganzes Leben lang schwer gearbeitet hat -- keine Nacht bei offenem Fenster geschlafen und jede Nacht im Schlaf furchtbar von Feuer und Kindern geschrien hat. Sie sagte, daß es einfach grauenhaft war. Ich habe meinen Vater natürlich sehr geliebt. Er hat nie erzählt, wie es war, wenn man zum erstenmal auf einen Menschen schießt. Heute wundert mich das. Allenfalls haben die Männer, wenn sie auf einer Familienfeier betrunken waren, die Geschichte erzählt, daß sie zur damaligen Zeit ins Ausland kamen, aber niemand hat gesagt, wie es war, wenn man zum erstenmal auf jemanden schießen mußte. Darüber hat keiner gesprochen.

In den letzten Jahren habe ich manchmal Menschen, die mir sehr nahestehen und das erlebt haben, danach gefragt. Sie können immer noch nicht darüber reden. Vor einigen Jahren reichten sich unser Bundeskanzler und Präsident Reagan auf einem Friedhof in Bitburg die Hand. Dabei ist mir zum erstenmal aufgefallen, daß mein Vater auf dem einzigen Foto, das es aus dieser Zeit von ihm gibt, eine Uniform trägt, die schwarz ist und auf der Totenköpfe sind. Damals war ich schon für die Grünen im Bundestag und habe es nicht gewagt, meinen Vater zu fragen; denn es fiel mir unendlich schwer. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, ich konnte das nicht.

1989 bin ich mit unserer bündnisgrünen Bundestagsfraktion nach Warschau gefahren. 50 Jahre nach dem Überfall auf Polen sind wir in Majdanek gewesen. Ich weiß nur, daß Papa im Krieg in Frankreich, in Rußland und in Polen gewesen ist. Ich weiß, daß er in Lemberg in Gefangenschaft geraten ist. Ich war im KZ in Majdanek und sage Ihnen: Eines Nachts bin ich regelrecht zusammengebrochen, weil ich furchtbar über das erschüttert war, was in Majdanek passiert war, aber genauso über das, was man mit den Männern, zu denen auch mein Vater gehört hat, gemacht hat. Es waren überwiegend Männer, die das Leben und Kinder liebten. Es ist furchtbar, zu was man diese Männer in diesem verbrecherischen Krieg gemacht hat. Die meisten von ihnen hatten nicht die Kraft, sich dem zu entziehen. Sie alle haben unendliche entsetzliche Schuld auf sich geladen. Die Männer, Frauen und Kinder -- ich bin die Tochter eines solchen Soldaten -- sind bis heute davon geprägt.

Herr Dregger, es stimmt doch nicht, daß man dann, wenn man die Wunden ungeschminkt zeigt und anfängt, darüber zu reden, die Betroffenen mit Schmutz überschüttet oder in eine Ecke stellt. Im Gegenteil, ich glaube, das Beste, das uns passieren könnte, wäre, wenn wir ein Klima in Deutschland bekämen, in dem die Väter und Mütter und ihre Kinder -- ich bin ein Nachkriegskind und mittlerweile 45 Jahre alt -- endlich einmal in aller Ruhe miteinander darüber reden könnten, was mit ihnen passiert ist und warum das so gekommen ist. Ich bin Mutter, ich habe Kinder. Ich sage Ihnen eines: Für mich steht außer Frage, daß ich, wenn ich jemals einem Deserteur helfen kann, weil er sich weigert, einen anderen Menschen zu erschießen, das tun werde. Ich glaube, wenn es wirklich etwas zu verteidigen gibt, was das eigene Leben wert ist, daß man es freiwillig tut, dann wird das ein Mensch in schwerster Not vielleicht auch tun. Aber man sollte Menschen nicht dazu abkommandieren. Ich glaube nicht, daß man ein Land lieben kann, wenn man nicht zuallererst gelernt hat, das Leben der anderen Menschen und auch sein eigenes zu lieben. Das ist mir wichtig zu sagen. Die Debatte beeindruckt mich. Ich habe mir sehr überlegt, ob ich das alles sagen soll, weil vielleicht jemand fragen könnte: Wie kannst du denn so etwas machen? Er ist doch dein Vater gewesen. -- Aber ich empfinde das, was ich gesagt habe, nicht als Nestbeschmutzung, weil jeder, der mich kennt, weiß, wie sehr ich meine Eltern -- auch meinen Vater -- liebe und geliebt habe. Wenn diese Debatte vielleicht stilbildend war, dann dadurch, daß man ansatzweise die politische Reflexion und die eigene Geschichte ehrlich, ungeschminkt, in einfachen, wenn auch schrecklichen Bildern dargestellt hat. Das würde ich mir wünschen. Ich glaube, daß diese Wehrmachtsausstellung genau das in Gang setzen kann, wenn man nicht anfängt, die Wunden zuzukleistern, billigen Trost zu geben, der im Prinzip nicht Brot, sondern Steine ist, indem man denjenigen, die darin verwoben waren, im nachhinein sagt: Es soll dich nicht mehr schmerzen, weil du gezwungen worden bist. -- Das hilft überhaupt nicht weiter. Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)

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© Birgit Pauli-Haack 1997 - 1999