Interview
mit
Nizkor-Gründer Ken McVay
und
Nizkor-Webmaster Jamie McCarthy
... und ein paar Informationen mehr
SPIEGEL Online:
Mr. McVay, das
Nizkor-Projekt, das Sie ins Leben
gerufen haben und leiten, ist mittlerweile die umfangreichste
Online-Informationsquelle über den Holocaust. Sie machen Gebrauch
von dem dort archivierten Material, um revisionistische Behauptungen
zu widerlegen, die die historische Realität des Holocaust
leugnen, und Sie ermutigen andere, es Ihnen gleichzutun. Versuchen
Sie, die Unbelehrbaren zu belehren?
McVay:
Nein. Ich war nie besonders daran interessiert,
Holocaust-Leugner dazu zu bekehren, ihre Ansichten zu ändern. Was
die denken, hat praktisch keine Bedeutung, weder im Internet noch
anderswo. Was alle anderen denken, ist jedoch von
außerordentlicher Bedeutung.
Nizkor existiert, um jede Leugnung des Holocaust als den Betrug zu
entlarven, der sie ist, und um die Leugner als die Scharlatane zu
bloßzustellen, die sie sind. Es geht nicht darum, ihre Ansichten
zu ändern. Indem wir die Leute über die unredlichen
Techniken aufklären, die die Holocaust-Leugner anwenden, helfen
wir ihnen, sich gegen diejenigen zu wappnen, deren politische Agenda
mehr darauf abzielt, Hitler reinzuwaschen, als historische Forschung
zu betreiben.
SPIEGEL Online:
In Deutschland werden die Behauptungen von
Neonazis, die den Holocaust leugnen, als kriminell angesehen und
strafrechtlich verfolgt. Im Internet und besonders in den USA gibt es
eine starke Tendenz, die freie Meinungsäußerung gegen jede
staatliche Einflußnahme zu verteidigen. Ihre Strategie,
Lügen mit historischen Tatsachen zu konfrontieren, scheint
vorauszusetzen, daß es Ihren Gegnern möglich ist, ihre
Ansichten kundzutun. Teilen Sie die Bereitschaft, auch den Gegnern der
Freiheit freie Meinungsäußerung zuzugestehen?
McVay:
Ja. Was würde es zum Beispiel für einen
Vorteil bringen, wenn man diese Nazis in den Untergrund zwingen
würde? Würde es sie daran hindern zu hassen? Hat es jemals
den Haß beendet? Als ein Volk müssen wir damit beginnen,
Verantwortung für unser Handeln und für unsere Probleme zu
übernehmen, anstatt zu erwarten, daß eine Regierung das
für uns tut. Kurz gesagt: Wir müssen lernen, unser
Päckchen selbst zu tragen und unseren sozialen Problemen direkt
ins Auge zu sehen.
McCarthy:
Da Zensur im Internet unmöglich ist, gibt es
keine Alternative zur Redefreiheit.
Die letzten Aktionen der deutschen Regierung waren letztlich so
etwas wie eine als Zensur maskierte Anprangerung. Diese "symbolische
Zensur" trägt nicht dazu bei, die Leute davon abzuhalten, das
scheußliche Material zu lesen. Ihre einzige Wirkung ist, dessen
Sichtbarkeit zu verstärken. Ernst Zündel schrieb, nach
aktuellen Berichten über "blockierte" Dokumente sei die Leserzahl
des "Zündelsite" um 50 Prozent angestiegen, und die Zahl der
Aufrufe von einzelnen Dokumente habe sich verdreifacht. Könnten
sich die Nazis eine bessere Werbung wünschen? Sie sind
völlig unbeeindruckt, und sie können sich jetzt das
Märtyrergewand anlegen. Warum gibt ihnen die Regierung nicht
gleich eine Million Mark für Werbezwecke?
SPIEGEL Online:
Gewinnen die rechten Extremisten in
Nordamerika an Bedeutung und Macht?
McVay:
Ich glaube, sie gewinnen weder das eine noch das
andere. Ich denke nur, sie sind stärker exponiert, weil unsere
Medien, und insbesondere das Internet, es leicht gemacht haben, "die
Nachricht unter die Leute zu bringen".
SPIEGEL Online:
Sie erhalten sehr oft Drohungen.
Beeinträchtigt Sie das manchmal in Ihrer Entschlossenheit?
McVay:
Nein, es überzeugt mich davon, daß ich auf
dem richtigen Weg bin. Darum nennen wir unsere
"Ermutigungsseiten"
"Ermutigungsseiten" und nicht "Drohungen".
SPIEGEL Online:
Bekommt Nizkor Unterstützung aus
Deutschland?
McVay:
Indirekt ja. Wir unterhalten einen
Mirror-Server in
Deutschland. Ich frage mich oft, ob die deutsche Regierung deshalb
gegen uns vorgehen wird - sie scheint zu glauben, daß man den
Haß aus der Welt zensieren kann. Das erscheint mir ziemlich
naiv.
McCarthy:
Das ist ein interessanter Punkt. Wir stellen viel
von demselben Material zur Verfügung, das auch die
Nazi-Apologeten verbreiten. Sicher, einige unserer Seiten enthalten
Erwiderungen und Analysen, aber viele eben auch nicht: Viele sind
identisch mit der ursprünglichen Nazi-Propaganda!
Wenn Nizkor eine Kopie des Leuchter-Reports archivieren will, wird
uns dann die deutsche Regierung über die Schulter schauen und uns
vorschreiben, was wir tun müssen, damit es legal ist? Werden wir
gezwungen sein, in den Kopf jeder Seite zu schreiben: "Dies ist
falsch"? Oder wird man unseren Server dichtmachen, Bußgelder
verhängen oder Schlimmeres?
Ich denke, das ist ein ernstes Problem, mit dem man sich
auseinandersetzen muß, bevor man feststellt, daß das
Gesetz auf eine Weise angewendet werden muß, die nie
beabsichtigt war.
McVay:
Wenn die Regierung wirklich etwas Gutes tun
wollte, würde sie damit aufhören, im Netz ihrem eigenen
Schwanz hinterherzujagen, und würde damit beginnen, ihre
nationalen Archive zu digitalisieren. Die Regierung verfügt
über Tonnen von unglaublich wertvollem Dokumentationsmaterial,
das in Lagerhallen vergammelt. Wenn sie eine positive Rolle
übernehmen würde, indem sie dieses Material der
Allgemeinheit übergibt, könnte man den Holocaust-Leugnern
den entscheidenden Schlag versetzen.
Ich wäre gerne bereit, die Arbeit zu übernehmen, wenn die
deutsche Regierung davor zurückscheut. Alles was sie tun
müßte, wäre, Nizkor sämtliche Mikrofilme zur
Verfügung zu stellen, die sie hat. Wir würden diese dann
digitalisieren und ins Netz stellen.
Das Interview führte
Lorenz Lorenz-Meyer.
SPIEGEL ONLINE 43/1996
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